Ein Gespräch mit dem Politologen Henri Menudier

Ist Frankreich reformresistent?

Seit dem "Nein" der Franzosen in einer Volksabstimmung über den Europäischen Verfassungsvertrag geht es in dem Land drunter und drüber: Demonstrierende Studenten, Korruptionsvorwürfe und Streitigkeiten innerhalb der Regierung sind zur Norm geworden.

Wahlspekulationen von Henri Menudier

Seit mehr als einem Jahr - seit dem "Non" der Franzosen in einer Volksabstimmung über den Europäischen Verfassungsvertrag - scheint die französische Politik von einer Krise in die nächste zu stolpern.

Wie tief sitzt die Krise wirklich? Welche Auswirkungen wird sie angesichts der kommenden Präsidenten- und Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr haben? Der Politologe Prof. Menudier nimmt im Gespräch mit Hans Woller dazu Stellung.

Man dürfe nicht verallgemeinern

Das "Nein" beim EU-Referendum, die Gewalt in den Vorstädten, die wochenlagen Proteste der Studenten gegen den Ersteinstellungsvertrag, schließlich die Clearstream-Affäre und ein Kabinett, in dem sich die einzelnen Mitglieder gegenseitig Knüppel zwischen die Beine werfen - all diese Vorfälle seien Ausdruck einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise, meint der Politologe Henri Menudier. Man dürfe aber nicht verallgemeinern: Frankreich sei ein modernes Land, das große Unternehmen habe und viele Ausländer anziehe, aber es gebe einen Teil im Staat, der sich benachteiligt fühle, und beim kleinsten Anlass könne es zur Beinahe-Revolution kommen:

"Das haben wir bei den Studentenausschreitungen gesehen. Die Clearstream-Affäre ist eigentlich eine politische Affäre. Aber man hat gesehen, wenn in unserer Gesellschaft irgendetwas nicht klappt, genügt der kleinste Anlass, dass die Situation aus den Fugen gerät. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass Frankreich einen Niedergang erlebt. Wir haben Probleme, aber andere Länder haben auch Probleme."

Angst vor Globalisierung?

Es gebe viele französische Unternehmen, die auf den internationalen Märkten eine große Rolle spielten. Diese Unternehmen hätten keine Probleme, sagt Menudier. Es gebe aber auch Firmen, die sehr stark beunruhigt seien:

"Ein Teil der französischen Unternehmer ist sehr beunruhigt, weil es durch die Globalisierung natürlich mehr Konkurrenz gibt und die Gefahr des Konkurses droht. Für Franzosen, die keine sehr gute Ausbildung haben, ist es natürlich auch schwer, diese doppelte Konkurrenz zu sehen. Hinzu kommt die europäische Integration, bei der immer mehr Kompetenzen nach Brüssel abgegeben werden."

Zur Eskalation durch Brände

Brände bei uns seien nichts Neues. Schon Anfang der 1980er Jahre habe es in Lyon gebrannt, auch in Strassburg, wo zu Weihnachten und Neujahr Wagen verbrannt worden seien. Dieser Ausbruch der Gewalt im Norden von Paris sei aber ein Zeichen der großen Disparitäten in unserer Gesellschaft, meint der Politologe:

"Dort gibt es viele Ausländer, und es haben sich viele Ghettos gebildet. Als dieser Ausbruch von Gewalt kam, waren wir sehr überrascht, denn wir Franzosen waren immer so stolz auf unser Integrationsmodell. Plötzlich mussten wir feststellen, dass diese Menschen nicht integriert waren."

Henri Menudier weist in diesem Zusammenhang auch auf die hohe Jugendarbeitlosigkeit hin: "Wir haben eine allgemeine Arbeitslosigkeit von etwa zehn Prozent; die Jugendarbeitlosigkeit ist jedoch enorm. Bei den Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren liegt sie bei 20 Prozent, bei den Jugendlichen im Norden von Paris kann sie aber 30 bis 40 Prozent erreichen."

Wer regiert Frankreich?

Die Regierung habe viel versprochen, aber letzten Endes nicht sehr viel Neues bewirkt, betont Henri Menudier: "Man braucht nur in die Vergangenheit zurückzuschauen. Es wurden immer wieder großartige Erneuerungspläne angekündigt, und nichts ist geschehen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn wir vor den Wahlen im Frühling wieder Demonstrationen hätten, denn dieser Termin wird natürlich von allen möglichen Gruppen ausgenützt, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen."

Nach der Krise um den Ersteinstellungsvertrag, bei dem es zahlreiche Studentendemonstrationen gegeben hat, gab es Tage, wo man nicht genau wusste, wer eigentlich das Sagen hat: der Präsident, der Premierminister oder der Innenminister? "Als dieses Gesetz beschlossen wurde und die Studenten damit konfrontiert wurden, ist ihnen bewusst geworden, dass sie zwar studieren, aber ohne Gewissheit, später eine Arbeit zu bekommen. Das war eigentlich der Grund dieser Proteste", unterstreicht der Politologe: "Aber wenn man schon Bücher zerstört, dann ist das ein Zeichen, dass die Gesellschaft sehr krank ist".

Braucht Frankreich eine sechste Republik?

Menudier glaubt das nicht. Die Franzosen wären auch dazu nicht bereit, von Grund auf etwas zu erneuern, sagt er. Er selbst empfiehlt künftig eine etwas ausgeglichenere Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Präsidenten, dem Premierminister und dem Parlament. Der Eindruck, dieses Land lasse sich nicht reformieren, sei aber nicht ganz falsch:

"Es ist schwer, in Frankreich zu reformieren. Das hängt damit zusammen, dass die Gewerkschaften eine große Rolle spielen, die für mich total anachronistisch ist, denn bei jedem kleinen Problem gibt es einen Streik. Wenn es soziale Probleme gibt, sollte es zunächst einmal einen Dialog zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber geben. Erst nach den Diskussionen - wenn beide Seiten nicht weitergekommen sind - sollte gestreikt werden. Ein anderer Grund, der in Frankreich undemokratisch wirkt, ist, dass sehr oft die Reformen ganz einfach direkt von der Regierung vorbereitet werden, ohne wirklich Diskussionen im Parlament zu führen."

Ausblick auf die Wahlen im Frühjahr

Dass Jacques Chirac es noch einmal wagen werde, bei den Wahlen im Frühjahr anzutreten, sei höchst unwahrscheinlich: "Das wäre politischer Selbstmord", so der Politologe. Nach seinen Worten werde es aber auf Seiten der Konservativen eine ganze Reihe von Kandidaten geben, Nicolas Sarkozy etwa oder Dominique de Villepin, aber auch andere.

Was ihn jedoch beunruhige, sei, dass die Sozialisten und die Linken im Allgemeinen nicht imstande seien, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Menudier glaubt daher, dass die Populisten - vor allem im extrem rechten Lager - von dieser Situation profitieren werden. Frankreich, so Henri Menudier, würde jedenfalls dadurch in Europa noch mehr Einfluss verlieren, als dies jetzt schon der Fall sei.

Hör-Tipp
Europa-Journal, Freitag, 11. August 2006, 18:20 Uhr

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