Gibt es die biografische Wahrheit?

Meine Wahrheit

Schon Freud meinte, die biografische Wahrheit sei nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen. Es gibt stattdessen nur ein ständiges Weitererzählen. Wer kann schon sagen, er hätte eine unverfälschte Erinnerung an seine Kindheit?

Lebensläufe werden bewusst manipuliert, stilisiert, maskiert - Zeiten werden verschwiegen oder ausgelöscht. Die biografische Wahrheit wird konstruiert. Bernhard Fetz, Direktor des Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie sieht zwei Aspekte des Verfälschens von Biografien.

"Auf der einen Seite gibt es das literarische Verfälschen, um aus Fakten interessante Lebenserzählungen zu machen. Zum anderen kann man Lebensläufe aber auch bewusst frisieren, um alle Leichen im Keller zu verstecken. Das trifft vor allem auf die Biografik in Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Faschismus zu."

Drei deutsche Schriftsteller

Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Wolfgang Koeppen. Drei deutsche Schriftsteller. Sie sind fast gleich alt, zwischen 1901 und 1906 geboren, sie hatten ihr literarisches Debüt in den 20er Jahren und sie haben die Zeit des "Dritten Reichs" überwiegend in Deutschland verbracht.

Die Publizistin Hiltrud Häntzschel aus München bemerkte, dass in ihren Biografien das "Dritte Reich" komplett fehlte. "Das machte mich stutzig und ich suchte nach Akten. Dann stimmt es plötzlich nicht mehr, dass Marieluise Fleißer Schreibverbot hatte, dass Koeppen in der Zeit nichts geschrieben hätte und dass Irmgard Keun ins Exil ging, weil sie sich weigerte in die Reichsschriftumskammer einzutreten. Im Gegenteil: Ihr Aufnahmeantrag wurde abgelehnt."

Gestohlenes Leben

Bei Wolfgang Koeppen bekommt die Diskussion um die verfälschte Biografie noch eine neue Dimension. Koeppen erfuhr in den 1970er Jahren von einem Bericht eines Holocaust-Überlebenden, von "Aufzeichnungen aus dem Erdloch" von Jakob Littner aus dem Jahr 1948.

Das Buch dürfte ihm offensichtlich gefallen haben, denn kurz darauf erschien es neu - mit einer kleinen Veränderung: Koeppen selbst war plötzlich der Autor. Ruth Klüger bezeichnet das als letzte "Enteignung und Erniedrigung des Opfers" - wie in der Zeitschrift "Literaturen" nachzulesen war.

Erfundenes Leben

Was, wenn man sich eine Biografie nicht aneignet, sondern überhaupt erfindet - und zwar seine eigene? Wenn man die Lücken mit erfundenen Geschichten füllt? In Salzburg sorgte der Fall Schwerte-Schneider für großes Aufsehen.

Die Schriftstellerin Gudrun Seidenauer versuchte mit ihrem Roman "Der Kunstmann" dem Literaturprofessor nachzuspüren und wie man mit einem Menschen umgehen soll, der zwei Namen, zwei Geschichten und zwei Ideologien lebte - der zwei Biografien hat.

Prominente Begegnungen

In den Erzählungen der Holocaust-Überlebenden spielt der "KZ-Arzt" Dr. Mengele eine ganz zentrale Rolle. Viele erinnern sich, dass er die Selektionen durchführte, obwohl es viele verschiedene Ärzte und Aufseher gab, die sich abwechselten. In der Erinnerung blieb allerdings nur Mengele haften, ist der Historikerin Maria Ecker aufgefallen. Warum?

Er war ab 1960 durch den Eichmann-Prozess eine prominente Figur- das dürfte die Erinnerung verfälscht haben. In Amerika wird in Zeitzeugeninterviews auch sehr oft Anne Frank genannt. Auch in diesen Fällen hat der gesellschaftliche Diskurs die Erinnerung verändert. "Viele Überlebende erinnern sich, mit Anne Frank in der gleichen Baracke in Bergen-Belsen gewesen zu sein", so Ecker. "Es sollte uns nachdenklich stimmen, was wir uns von Zeitzeugen erwarten und wie wir mit den Berichten umgehen." Ecker will dieses heikle Thema nicht tabuisieren. Ihr geht es darum, nicht aus jeder Biografie etwas lernen zu wollen, sondern sie einfach als Erfahrungsbericht gelten zu lassen.

Buch-Tipps
Bernhard Fetz (Hg), "Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit", Paul Zsolnay Verlag (erscheint im September 2006), ISBN 3552053867

Gudrun Seidenauer, "Der Kunstmann", Residenz Verlag, ISBN 3701714029

Hiltrud und Günter Häntzschel, "Wolfgang Koeppen", Suhrkamp Verlag 2006, ISBN 3518182129

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