Wie Kinder ganze Armenviertel kontrollieren

Rios brutale Drogenjugend

Die Drogenkartelle haben Rios Elendsviertel fest im Griff. Die Favela-Jugendlichen haben doppelte Funktion für sie: als kleine Dealer und als Konsumenten. Und zwischen den Gangs toben blutige Auseinandersetzungen.

Stimmen aus Rio zur Jugendkriminalität

Rio de Janeiro gilt als eine der attraktivsten Metropolen der Welt. Doch die Drogen-Bosse haben mit Verbrechen und Vermögen seit langem die Gewalt über die Armenviertel an sich gerissen - vor allem die Kontrolle über die dort lebenden Kinder.

Die Hauptursache für die hohe Jugendkriminalität

Die gesellschaftlichen Probleme der Stadt sind seit langem außer Kontrolle geraten. "Die Anzahl bewaffneter Jugendlicher ist offensichtlich gestiegen“. Fátima Cecchetto spricht ruhig und überlegt. Die Anthropologin setzt sich seit Jahren mit dem Thema Jugend und Gewalt auseinander. Immer jünger würden die Kinder kriminell, und ihre Waffen immer schwerer: "Daraus resultieren immer mehr gewalttätige Konflikte, die viel dramatischer sind, als sie je waren“, beklagt sie.

Neun bis zwölf Jahre alt seien die Kinder, die in den Drogenhandel eintreten, berichtet auch Atila Guimaraes aus eigener Erfahrung. Der hagere Mann ist seit 13 Jahren Psychologe in Rocinha, einem der größten Slums in Lateinamerika. Zu seinen Klienten zählen einige der großen, berüchtigten Traficantes. Der Psychologe gibt dem Staat die Schuld und meint, er gebe den Kindern keine Aussicht auf sozialen Ausstieg; der Drogenhandel hingegen schon.

Auch die Polizei kennt die Umgebung, in denen diese Kids heranwachsen. Den Kindern fehle eine Lebensperspektive, meint die Polizistin Leila Goulart da Souza: "Daher landen sie auf der Straße, werden kriminell und mit jedem Mal gewalttätiger“.

Ein Menschenleben zählt nichts

In den Armenvierteln von Rio tragen die Kids buchstäbliche Schlachten aus. Die Favelas müssen sich sogar schwer bewaffneten Banden von Straßenkindern beugen, für die ein Menschenleben nichts zählt.

"Mit 13 Jahren hat sie zum ersten Mal getötet“, erzählt Atila Guimaraes von einer Patientin, die als Drogenkurier arbeitete: "Ein Kunde hat versucht, sie zu missbrauchen. Sie hat x-mal mit einem Messer auf ihn eingestochen. So machte das Mädchen schnell Karriere im Business: Es wurde zum Auftragskiller. Kein Einzelfall".

Der Psychologe berichtet auch von einem Burschen, der als Zehnjähriger in die Hände der Drogenmafia geriet: "Er war für seine extreme Grausamkeit bekannt. Das Töten hat ihn völlig kalt gelassen“, sagt er und kommt beim Reden ins Stocken: "Er hat Menschen mit einer Motorsäger in Stücke geschnitten".

Kinder existieren nicht

"Die Favela-Kinder suchen eine Identität", erklärt der Soziologe und Polizei-Coronel Antônio Carlos Carballo Blanco. Seit 22 Jahren ist er bei der Polizei und hat die Entwicklung mitverfolgt. Kinder - so der Polizist - würden für die Gesellschaft nicht existieren:

"Wenn wir ein Straßenkind sehen, schauen wir durch es hindurch. Aber wenn dieses Kind eine Waffe trägt, wird es plötzlich beachtet“. Die Waffe - so traurig das klinge - schenke ihm Beachtung und Identität.

Fußball schenkt eine Perspektive

"Wenn die Kids eine Waffe tragen, bekommen sie Respekt“, gibt auch Ex-Fußballstar Jorginho zu bedenken. Er ist in die Favelas zurückgekehrt, um den Straßenkindern eine neue Perspektive zu bieten. Mit dem im Ausland verdienten Geld hat der Fußballstar gemeinsam mit seinem ebenso bekannten Kollegen Bebeto für die Kinder eine Fußballschule errichten lassen.

Zurzeit werden etwa 700 Kinder von 6 bis 16 Jahren bei "Bola Pra Frente“ trainiert - gratis, versteht sich. Natürlich würden alle Kids Fußballer werden wollen, erzählt Jorginho, aber: "Sie bekommen hier in erster Linie Liebe, Geborgenheit und ein Selbstwertgefühl“.

Hör-Tipp
Journal-Panorama, Donnerstag, 3. August 2006, 18:25 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Fatima Cecchetto, "Violencia e Estilos de Masculinidade no Rio de Janeiro", Rio de Janeiro 2004, FGV Editora

Links
Brasilianisches Anthropologie-Forum
Polizei in Rio de Janeiro
Profifußballer helfen Kindern - Stiftung
Bola Pra Frente