Das Versagen der demokratischen Eliten

Anatomie des Faschismus

Der Faschismus, so Robert O. Paxton, war die politische Innovation des 20. Jahrhunderts. Der Aufstieg der Demagogen war alles andere als unaufhaltbar. Der Machtergreifung der Faschisten ging stets ein Versagen der demokratischen Eliten voraus.

Alle "Ismen" haben ihre Reifephase bereits im 19. Jahrhundert erreicht: Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus. Der Faschismus dagegen war etwas völlig Neues. Mehrerlei musste zusammenkommen, damit er die Massen zu fanatisieren vermochte: Verherrlichung der Gewalt, ein militanter Nationalismus, die Verachtung der Demokratie, ein klares, oft antisemitisches Feindbild, ein brutaler Antikommunismus - und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs.

Vor allem die Verlierernationen erwiesen sich als anfällig: Deutschland, Ungarn, Österreich - auch das politisch seit jeher instabile Italien. Robert O. Paxton untersucht die ideologischen Wurzeln des Faschismus, findet sie in der Massenpsychologie Le Bons, in den Theorien Nietzsches und Sorels, auch im Antisemitismus Luegers und im Pangermanismus Schönerers. So weit, so altbekannt.

Ein Fünf-Stufen-Modell
Überblicksartig durchleuchtet der emeritierte Professor der Columbia-University dann den Weg Benito Mussolinis und Hitlers an die Macht, er untersucht die faschistischen Bewegungen Ungarns, Rumäniens, Frankreichs, Großbritanniens, Kroatiens, Belgiens und anderer Nationen - und kommt zu einem Fünf-Stufen-Modell des Faschismus. Das ist neu.

Stufe eins: die Entstehung. In dieser Frühphase stützen sich faschistische Bewegungen vor allem auf frustrierte junge Männer aus der Unter- und Mittelschicht, auf entlassene Militärs, auf Erniedrigte und Beleidigte aller Art. Stufe zwei: die Faschisten etablieren sich als ernsthafte Player im politischen System. Stufe drei: Sie greifen nach der Macht. Stufe vier: Sie üben die Macht aus - wobei es in Sachen Terrorintensität erhebliche Unterschiede gibt. Stufe fünf: Das Regime wird zum Opfer seiner eigenen Dynamik, radikalisiert sich mehr und mehr - und geht am Ende unter. Diese fünfte und letzte Stufe hat nur das nationalsozialistische Deutschland erreicht. Die meisten faschistischen Bewegungen der Geschichte sind in Phase eins oder zwei steckengeblieben.

Aufhaltbare Aufstiege
"Die meisten Konservativen waren überzeugt, dass der Kommunismus schlimmer war als der Faschismus. Sie waren bereit, mit den Faschisten zusammenzuarbeiten, wenn ansonsten die Linke gewinnen würde", schreibt Paxton und resümiert, dass an der Machtergreifung Hitlers und Mussolinis nichts, aber auch gar nichts unvermeidlich war. Sowohl in Italien wie in Deutschland hätte das politische Establishment auch anders entscheiden können, es hätte auf eine Koalition mit der gemäßigten Linken setzen können, oder auf präsidentielle oder königliche Notverordnungen - Optionen, für die man sich bewusst nicht entschieden hat. Zu verlockend erschien das Angebot der faschistischen Führer, jenes Chaos mit harter Hand zu überwinden, zu dessen Entstehung sie selbst nicht wenig beigetragen hatten.

Robert O. Paxton stellt unmissverständlich fest: Der Machtergreifung der Faschisten ging stets ein Versagen der demokratischen Eliten voraus. Erst wenn sich die Kräfte der linken und der rechten Mitte als unfähig, korrupt oder heillos zerstritten erwiesen, schlug die Stunde der Demagogen.

Hat der Faschismus Zukunft?
Robert O. Paxton diskutiert in seinem Buch auch die Frage, ob faschistische Massenbewegungen auch im 21. Jahrhundert erfolgreich sein könnten. Durchaus, meint der Columbia-Professor.

Auch ein neuer Faschismus müsste irgendeinen Feind diabolisieren, und zwar einen inneren und einen äußeren. Das würden allerdings nicht unbedingt Juden sein. Ein authentischer amerikanischer Faschismus wäre fromm, anti-schwarz und seit dem 11. September 2001 auch anti-islamisch. In Westeuropa gäbe sich ein neuer Faschismus säkular und heutzutage wahrscheinlich eher anti-islamisch als antisemitisch.

Noch sind wir nicht so weit. Ein Terroranschlag, eine Wirtschaftskrise gröberen Ausmaßes kann das Pendel allerdings recht schnell ins Rechtsextreme ausschlagen lassen.

Über viele von Paxtons Thesen lässt sich trefflich streiten: Ob Dollfuß, Franco, Salazar wirklich nur autoritäre Machthaber waren und keine faschistischen, ob man bestimmte Klein-Parteien in Israel faschistisch nennen darf und terroristische Moslem-Gruppen nicht - darüber ist wohl auch die Fachwelt geteilter Ansicht.
Faktum bleibt: Professor Paxton hat ein erhellendes Buch vorgelegt - eine Studie, die frischen Wind in die internationale Faschismus-Debatte bringt.

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Buch-Tipp
Robert O. Paxton: "Anatomie des Faschismus", aus dem Englischen von Dietmar Zimmer, Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3421059136