Die Oper, ein sinnlich-dramatisches Medium

Kraftwerk der Gefühle

Seit etwa 1650 gibt es dieses spezifische Genre: Die Oper. Und seither wird sie geliebt, gestürmt - und von ihren Gegnern als unzeitgemäße Kunstform in Frage gestellt. Kurt Reissnegger versucht zu ergründen, was die Faszination dieses Mediums ausmacht.

"Phobischer Schwankschwindel", sagte er, nichts, wogegen man medikamentös etwas tun könne. Er empfahl: "Entspannung, Zufriedenheit mit dir selbst" und "Geh’ doch einmal in die Oper, das ist einfach das Beste". Die Oper - das Beste? Sollte ich meinem alten Studienkollegen trauen, nur weil er seinerzeit von Bob Dylan fasziniert gewesen war und immer noch, selbst als Primar, aussah, als ob Charlie Rivel sein Vater wäre?

Doch Patient-Arzt-Abhängigkeit und gemeinsame Vergangenheit führten dazu, dass ich ihm glaubte, dass er es gut mit mir meinte. Die nächste Oper, an der ich vorbeikam: Triest. "Die Frau ohne Schatten". Freundliche Billeteure haben mich und meine Freundin am frühen Abend noch während der laufenden Vorstellung (Oper am Nachmittag? Das war uns neu.) hineingelassen - so erlebten wir höchst dramatische Schlussminuten. Ich habe nichts verstanden, aber mit Wohlwollen erstmals begriffen, dass in der Oper sehr sinnlich Dramatisches zur Darstellung gebracht werden kann ...

Persönliche Prägung als Basis

Was hatte ich bisher erfahren? Volksmusik und Wunschkonzert aus dem Radio, Blasmusik der Bergwerkskapelle, "Deutsche Messe" in der Kirche. Die gymnasiale Musikerziehung kam über das Kärntner Lied nicht hinaus, erst das Studentenheim schloss mich an neue Klänge an - Rock, Pop, Blues, Folk, Jazz, Soul - das war Musik, die mich unmittelbar erreichte, die mich verzaubern konnte.

"Simple Twist Of Fate". Die Stimmen klangen natürlich, unausgebildet, waren außergewöhnlich und zugleich "normal" bzw. das, was wir dafür hielten. Ganz im Gegensatz zu ausgebildeten Kunststimmen. Die erschienen so gewöhnungsbedürftig, dass wir es gar nicht erst versuchen wollten. Oper, so meine italienische Erfahrung, ist in ihrer Gesamtheit gewöhnungsbedürftig.

Verstaubtes Repertoire

Gewöhnungsbedürftig war dann aber auch staubiges Repertoire im "Haus am Ring" (mein Zweitversuch), aussageloses Bühnenbild, der Anblick eines während der Vorstellung in einer Zeitschrift lesenden Musikers, unbeholfene Darsteller ... das soll das Beste sein?

Wir waren aus Büchern differenzierte im Wortsinn Welt-Literatur gewohnt - und aus Filmen überzeugende Schauspielleistungen und "plots": Bunuel, Hawks, Hitchcock, Tourneur, Lanzmann, Jarmusch, Melville, Altman, Ray, Kaurismäki, Wiseman, Welles, Lubitsch ... sie erschlossen uns neue Vorstellungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Wann immer man jedoch "Opernfreunde" trifft, kann man sich nicht sicher sein, dass nicht sofort gegen "Regie"-Theater polemisiert werden wird ...

Klaus Theweleits Thesen

Wie werden Gefühle "organisiert", wie wird Kultur "produziert"? Fragen dieser Art stellte noch einer, der mich mit seinem Interesse für Oper überraschte: Klaus Theweleit, Ende der 1970er Jahre bekannt geworden durch seine Untersuchungen zur Frage, warum und wie man Faschist wird, schildert mit dem Rüstzeug eines modernen, universalgelehrten Kriminalisten, wie Orpheus 1607 in Mantua erscheinen konnte.

Der Auslöser: Theweleit sah im Fernsehen Harnoncourts/Ponnelles Zürcher Inszenierung von Monteverdis "L’Orfeo" (Dezember 1975). "Die Oper im TV war ein ziemlich glatter Mordfall. Eine störende Frau wurde beseitigt, damit zwei Typen, ein Künstler und ein Gott, Orpheus und Apoll, besser miteinander klar kämen." Monteverdi war angestellter Musiker am Hof zu Mantua, der Librettist ein hoher Hofbeamter. Er besetzte die Rolle des Apoll mit dem Fürsten, Vincenco Gonzaga, die der "La Musica" mit der Fürstin. Theweleit: "Ich war nicht vom Schlag getroffen, aber anelektrisiert: Hier schien ein Staatsakt vorzuliegen, der Gesetze zu schaffen suchte im Frauen/Männer- wie im Kunst/Macht-Verhältnis."

"Musicbox-Code" und komplexes Medium Oper

Über die Bedingungen, die eine neue öffentliche Funktion für Frauen, die der "Hofsängerin", ermöglichen, über "bel canto" und das Fundament der Oper, die "Musik als Verwandlerin", als Kraft, die Gefühle umbaut, die jene Momente schaffen kann, "in denen die Erde angehalten wird in ihrem Lauf", auch darüber kann man in Theweleits "Buch der Könige" lesen.

Klaus Theweleit verdanke ich noch den Weg zu einer Erklärung, warum Oper für mich gewöhnungsbedürftig war. Popmusikalisch sozialisierte Menschen sind geprägt vom "Musicbox-Code", der da lautet: Ein Gefühl dauert 2:30 Minuten, dann kommt ein anderes. Oper, selbst in ihren Einzelteilen, ist ungleich komplexer.

Die Macht der Redundanz

"Repetitio est conditio sine qua non" - ähnlich wie bei der Popmusik erschießt sich der gesungene Operntext erst nach mehrmaligem Hören und unter Zuhilfenahme des Librettos und das sichere Wissen um die Handlung ist eine Voraussetzung, um Oper begreifen zu können.

Versuchen wir zum Beispiel Oper als Phänomen der vorelektrischen Zeit zu verstehen, wird uns auch die Art des Gesangs verständlicher. Heute helfen technische Apparaturen und bis zu zigtausend Watt den Sängern. Nur aus sich heraus die Luftmoleküle einer ganzen Halle zum Schwingen zu bringen, und dies oft mit größter Zartheit im Ausdruck, bleibt eine den "Kunststimmen" vorbehaltene Faszinationsmacht ...

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 22. Juli 2006, 17:05 Uhr

Download-Tipp
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Links
Wikipedia - Oper
Alexander Kluge
Klaus Theweleit
Teatro Lirico "Giuseppe Verdi" Trieste
Wiener Staatsoper