Abseits bekannter Mythen
Cosa Nostra
Bekannt sind nur die Mafia-Mythen, also: die ehrenwerte Gesellschaft, der Staat im Staat, ritualisierte Verbrechen, Patriarchen, Machos und Unsummen illegal angehäuften Geldes. John Dickie arbeitet nun die Geschichte der "Cosa Nostra" ausführlich auf.
8. April 2017, 21:58
Der englische Historiker und Journalist John Dickie hat eine Geschichte der Mafia geschrieben, was zuerst einmal seltsam anmutet, denn die Mafia hinterließ außer Leichen wenig Spuren, seit sie in den 1860er Jahren in den Dörfern rund um die Sizilianische Hauptstadt Palermo aktiv zu werden begann. Die Mafia ist nicht irgendeine Bande, und vor allem: Wer einmal mitmacht oder zum Mitmachen gezwungen wird, der kommt lebend nicht mehr raus.
Die sizilianische Mafia strebt nach Macht und Geld, und dazu pflegt sie die Kunst, Menschen umzubringen und ungestraft davonzukommen. Außerdem verbindet sie mit ihrer einzigartigen Organisation die Eigenschaften eines Staates im Staate mit denen eines illegalen Unternehmens und einer eingeschworenen Geheimgesellschaft nach Art der Freimaurer.
Architektur des Verbrechens
Weil aber John Dickie nicht spekulieren wollte, hat er zusammengetragen, was zusammenzutragen war. Das Material ist naturgemäß lückenhaft, doch Dickie gelingt es, die verstreuten Informationen so zu verknüpfen und damit eine Architektur des Verbrechens transparent zu machen, die bis zum heutigen Tag einzigartig ist.
Nur der Name ist verhältnismäßig neu. Beobachter sizilianischer Verhältnisse sprachen von der "Mafia", meinten damit aber nicht immer dasselbe. Oft war auch ein Mafioso gleichbedeutend mit einem Sizilianer. Erst als sich mit der Auswanderungswelle Ende des 19. Jahrhunderts die Mafia auch in den USA festsetzte, sprachen die Clans von "cosa nostra", unserer Sache. Womit gemeint war, dass die Sizilianer keinen Staat brauchen, sondern alle Probleme unter sich regeln. Nach 1945 hat sich der Begriff Cosa Nostra für die sizilianische Mafia durchgesetzt.
Nichts als die Wahrheit
Die besten Kenner der Cosa Nostra sind deren Mitglieder. Selten wechselt eines die Seiten und kooperiert mit Justiz und Polizei. Der letzte Abtrünnige war Tommaso Buscetta. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Gelegenheitsdieb als 18-Jähriger Mitglied der cosca von Porta Nuova bei Palermo. Eine "cosca" ist eine Zelle mit eigenem Revier. Insofern gibt es die Mafia oder die Cosa Nostra nicht. Es gibt Netzwerke und klare Regeln.
Insbesondere auf eine Regel aus dem Innenleben der Cosa Nostra wies Buscetta immer wieder hin. Sie betrifft die Wahrheit. Von Buscetta wissen wir, dass die Wahrheit für Mafiosi ein besonders kostbares und gefährliches Gut ist. Bei der Aufnahme eines Ehrenmannes in die sizilianische Mafia muss er unter anderem geloben, niemals andere "gemachte Männer" zu belügen, ganz gleich, ob sie derselben Familie angehören oder nicht. Jeder Ehrenmann, der danach noch eine Lüge erzählt, kann sehr schnell feststellen, dass er einen Abkürzungsweg zum Säurebad eingeschlagen hat.
Warum erst jetzt?
Die Aufzeichnungen des Untersuchungsrichters Giovanni Falcone aus den frühen 1980er Jahren sind die wertvollsten Zeugnisse über Struktur und Funktion der Mafia, sowie über das Denken der Mafiosi. Abgesehen von der Tatsache, dass Richter Falcone seine Untersuchungen mit dem Leben bezahlen musste, während Buscetta mit neuer Identität ausgestattet friedlich in den USA weiterlebte, stellt sich die Frage, warum man bis in die 1980er Jahre so wenig über die Mafia wusste, obwohl sie zugleich so präsent war im öffentlichen Leben Italiens.
Diese Frage zieht sich durch John Dickies Buch, weil die Antwort nicht in Sizilien zu finden ist, sondern in Rom. Seit Giuseppe Garibaldis gewaltsamer Einigung Italiens in den 1860er Jahren verfügte der Staat nie über ein stabiles politisches System. Die auch heute viel zitierten "italienischen Verhältnisse", das heißt: kurzlebige Regierungen, korrupte staatliche Institutionen und die Animositäten zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden, all das kennt man seit 150 Jahren.
Das Besondere an der Mafia ist, dass sie nie politische Interessen verfolgte, sondern rein wirtschaftliche: Erpressung, Diebstahl, Schmuggel, später das Baugewerbe und der Drogenhandel - das war sozusagen die Kernkompetenz. Um im geschützten Raum arbeiten zu können, bedurfte es der Mithilfe von Justiz, Polizei und vor allem der Politik. Bis zum heutigen Tag wird diese Mithilfe erkauft oder erpresst.
Teil des italienischen Systems
Die Geschichte der Mafia oder, um korrekt zu bleiben, der Cosa Nostra ist nur in zweiter Linie eine Geschichte des organisierten Verbrechens. In erster Linie ist es eine Geschichte über das Versagen des Staates und über die Selbstbedienungsmentalität der politischen Eliten.
Die Mafia hat nie isoliert von der Bevölkerung existiert, sie war nie ein Geschwür, das man operativ entfernen kann. Die Mafia ist so sehr Teil des politischen und wirtschaftlichen System Italiens, dass sie nach jeder Schwächung durch Mutation nur immer mächtiger geworden ist. Italien hat es schlichtweg verabsäumt, rechtzeitig das Problem zu lösen. Jetzt kann es nur mehr darum gehen, irgendwie mit dem Problem zu leben und das demokratische System zumindest einigermaßen vor dessen Unterwanderung zu schützen. Und das ist eine bittere Erkenntnis.
Hör-Tipps
Journal-Panorama, Montag, 10. Juli 2006, 18:25 Uhr
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
John Dickie, "Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia", S. Fischer Verlag, ISBN 3100139062