Eine musikalische Betriebsanleitung
Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?
Christiane Tewinkel geht es nicht nur um die Erklärung einschlägiger Fachbegriffe, sondern der Autorin geht es auch und ganz besonders um die Ermutigung, dem eigenen Urteil über Musik zu vertrauen, auch wenn man nicht Musikwissenschaft studiert hat.
8. April 2017, 21:58
Der erste Satz der Sonatine in C-Dur von Muzio Clementi ist in der Form des Sonatenhauptsatzes komponiert. Und dieses kleine Musikbeispiel führt Christiane Tewinkel an, um all jenen, die sich mit den Fachbegriffen der Musikwissenschaft nicht so genau auskennen, ganz einfach zu demonstrieren, wie sich das mit den Elementen der Sonatenhauptsatzform, Exposition, Durchführung und Reprise, verhält. Zur Illustration ist im Buch das Notenblatt des ersten Satzes dieser Sonatine abgedruckt. Über die Sonatine heißt es dann:
Im ersten Abschnitt werden nacheinander zwei musikalische Einfälle vorgestellt, also zwei Melodien bzw. Akkordfolgen bzw. was immer es noch an Eindrücklichem geben könnte. Gibt es dazu keine Einleitung, steht der erste eindrückliche Einfall (auch "Thema" genannt) als allererstes, und zwar in der Grundtonart, der Tonika.
Wenn Sie nun verzweifeln wegen der Fachausdrücke, können Sie das Lesen an dieser Stelle unterbrechen und kurz ins zwölfte Kapitel springen, das die Tonarten behandelt. Sie können aber auch einfach so tun als hätten Sie alles verstanden, und weiter lesen. Es wird fast sofort besser.
Erklärung und Ermutigung
Also wieder so ein Buch, das für den gestressten berufstätigen Menschen den einschlägigen Volkshochschulkurs ersetzen soll? Nein, denn der Autorin verfolgt mit ihrem Buch zwei Ziele: Es geht ihr nicht nur um die Vermittlung von Faktenwissen, sondern auch und gerade um die Ermutigung, sich nicht durch ein mögliches Manko an Fachwissen vom Musikgenuss und vom Konzertbesuch abhalten zu lassen.
Vielleicht liegt die Lösung darin, dass Sie auf keinen Fall etwas lernen müssen, um Musik zu hören und sich an ihr zu erfreuen. Aber interessant wäre es vielleicht trotzdem, mehr zu erfahren. Schließlich ist es unangenehm, ständig den Kopf zu verrenken, weil die der Musikszene zugehörenden Menschen auf so hohe Sockel gestellt werden.
Jede Menge Neue Musik
In insgesamt 24 Kapiteln widmet sich Christiane Tewinkel dem Konzertwesen, der Musiktheorie, der Musikpraxis mit Chor, Oper, Spielen, Üben, Dirigieren und Komponieren und endet mit letzten Fragen wie "Wo steht die Klassische Musik heute und wie ist sie dahin gekommen?"
Im Kapitel über die so genannte Neue Musik weist die Autorin darauf hin, dass man heutzutage viel mehr Neue Musik hört, als man denkt. Als Beispiel nennt sie die Tatsache, dass es kaum einen Film in Kino oder Fernsehen gibt, der nicht auf Neue Musik als akustisches Gestaltungsmittel zurückgreift.
Lassen Sie sich stattdessen von der unglaublichen Vielfalt an Eindrücken, dem riesigen Hör-Horizont einnehmen, den andersartige Filmmusiken eröffnen können: mit Geräuschen, elektronisch erzeugten Klängen und Neuer Musik. Stanley Kubrick hat seinen Filmen gerne Neue Musik unterlegt; sowohl in "2001 Space Odyssey" als auch in "Eyes Wide Shut" ist zum Beispiel Musik des ungarischen Komponisten György Ligeti zu hören.
Gewürzt mit feiner Ironie
Dieses Buch hat viele Stärken: Es ist mit leichter Hand geschrieben, mit einer Prise Ironie gewürzt und liest sich für Nicht-Musik-Fachleute leicht, ohne je banal zu werden. Dabei verzichtet Tewinkel auch nicht auf die eine oder andere Spitze gegen den Musikbetrieb und seine Rituale.
Sollte es so sein, dass im Konzert niemand essen oder an der falschen Stelle klatschen darf, damit kein anderer vom Streifen durch das Wunderland der Musik abgelenkt werde? Ja. Man ist da sehr rücksichtsvoll. Man möchte eben total zuhören, nicht nur mit einem halben Ohr; jenes aggressive Gezische, das in Publiken aufkommt, wenn jemand gegen den akustischen Strom schwimmt, zeugt auch von dem unbedingten Wunsch, nichts, aber auch gar nichts zu verpassen. Außerdem würde es wahrscheinlich sehr viel kosten, die Konzertsäle und Opernhäuser nach den Darbietungen fachgerecht zu reinigen. Womöglich hat man auch die Angst, dass ein Zuschauer etwa mit seiner Grapefruit in den nächststehenden Kontrabass spritzt.
Also ein Buch, das zum Schmunzeln anregt, zum Musikhören ermutigt und zum Konzertbesuch anregt. Denn manchmal...
... ist ein Konzertbesuch der Glücksfall vermiedener Langeweile Er wiegt aber alles andere auf. Und zwar für immer. Oder doch zumindest bis zum nächsten Mal. In einem solcherart nicht langweiligen Konzert (das man vielleicht alle halbe Jahre einmal erlebt) wird so musiziert, dass Sie in eine ganz ruhige, klarsichtige Stimmung hineinkommen, dass Sie genießen, was Sie hören. (...) Das ist ein kleines Wunder. Und dafür geht man ins Konzert.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Christiane Tewinkel, "Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile? Eine musikalische Betriebsanleitung", Dumont Verlag, ISBN 383217860