Erzählungen von Alice Munro
Tricks
Alice Munro ist eine Meisterin der Kurzprosa, die sich mit scheinbar einfachen Geschichten über scheinbar einfache Menschen leise und zäh an die literarische Weltspitze geschrieben hat. 2006 ist der Band "Tricks" mit acht Erzählungen erschienen.
8. April 2017, 21:58
Hinter den Bildern ein anderes Bild: Nebelschwaden, die Silhouette einer Ziege und immer stärker fallender Regen, der schmerzhaft ins Gesicht schlägt. Clark, Protagonist in Alice Munros erster von acht Erzählungen des Bandes "Tricks", wird die Ziege töten und vergraben. Das Tier verschwand zur selben Zeit wie seine Frau Clara und seltsamerweise taucht es auch in derselben Nacht wieder auf. Es ist, als könne Clark es nicht ertragen, als müsse er jede Erinnerung an die überstürzte Flucht seiner Frau auslöschen, um wieder Normalität herzustellen.
Kälteschäden der Seele
Meist kommt die 1932 im kanadischen Ontario geborene Farmerstochter Alice Munro ohne solch dramatische Szenen aus. Sie will nichts beweisen, nichts verkünden. Mit fast schon knochentrockener Beiläufigkeit erzählt sie vom kleinen Unglück, von den Kälteschäden der Seele.
Erst im Alter von 36 Jahren begann Munro, Mutter von drei Töchtern, ihre Geschichten zu veröffentlichen. Warum sie "nur" Erzählungen schreibt, erklärt sie selber folgendermaßen: "Ich wurde in einer Zeit Schriftstellerin, als das für Frauen kein Beruf war. Männer waren Schriftsteller. Sie waren es mit Leib und Seele. Ich war, wie alle Frauen damals, eine Hausfrau. Hatte kleine Kinder. Ich musste mir meine Zeit fürs Schreiben zusammenstehlen. Ich glaube, dass ich bis heute ganz anders arbeite als ein schreibender Mann."
Verborgene Möglichkeiten des Lebens
Die Frau, die ohne Ruhm und Rummel lebt, musste sich ihren Weg in die Gegenwart erst bahnen. Sie ging den Weg der Emanzipation, bevor es die Emanzipation gab, wurde zur Feministin, die aber "keine feministische Autorin" sein will. Über die Lateinlehrerin Juliet, Hauptfigur in den Erzählungen "Entscheidung", "Bald" und "Schweigen", einem lose zusammenhängendem Triptychon heißt es:
In der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, wurde ihre Art von Intelligenz in dieselbe Kategorie gesteckt wie ein lahmes Bein oder ein zusätzlicher Daumen.
Dennoch will diese Juliet ganz Frau sein, eine hingebungsvolle, ambitionierte, kultivierte. Schwierig in einer kanadischen Kleinstadt der 60er Jahre. Eines Tages geht Juliets erwachsene Tochter Penelope auf und davon, geht der Mutter wortlos verloren.
Alice Munro gelingt es, aus wenigen Szenen ein ganzes Leben zu entfalten. Mehr noch: Sie führt das nicht gelebte Leben vor, die verborgenen Möglichkeiten, die nur in besonderen Augenblicken spürbar werden. Sie besichtigt Konflikte im Keimstadium, noch bevor sie den Protagonisten selbst ins Bewusstsein treten, schildert die Latenzphasen und Entscheidungssituationen, in denen die Zukunft unbemerkt auf dem Spiel steht.
Es hätte anders laufen können
In der Titel gebenden Geschichte "Tricks" fährt Robin, eine unkonventionelle junge Frau, in die nahe Hauptstadt ins Theater. Sie lernt einen Uhrmacher kennen, der ihr Gulasch kocht, eine Flasche Wein entkorkt und sie am späten Abend zum Zug bringt. Umschlungen stehen die beiden am Bahnsteig, küssen einander und verabreden sich für ein Jahr danach, sollten sich ihre Gefühle als haltbar erweisen.
Das vereinbarte Jahr später schlägt ihr der Uhrmacher brutal die Tür vor der Nase zu. Erst in hohem Alter löst sich das Rätsel: Der Uhrmacher hatte einen taubstummen Zwillingsbruder, dem sie wohl begegnet sein muss. Banal die Einsicht, dass es hätte anders laufen können. Die Story endet mit der lakonischen Feststellung:
Alles an einem Tag zerstört, binnen weniger Minuten, nicht schrittweise durch qualvolle Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen, in einem lang hingezogenen Prozess. Doch wenn es stimmt, dass so etwas in aller Regel ohnehin zerstört wird: Ist dann der kurze Prozess nicht leichter zu ertragen?
Service
Alice Munro, "Tricks", aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning, S. Fischer Verlag