Das Zerplatzen des amerikanischen Traums

Elf Arten der Einsamkeit

44 Jahre hat es gedauert, bis Richard Yates' meisterhafte Short-Story-Sammlung "Elf Arten der Einsamkeit" in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Titel ist Programm, in den Storys geht es um den amerikanischen Traum, der zerplatzt.

In "Elf Arten der Einsamkeit" erzählt Richard Yates von den Schattenseiten des amerikanischen Traums, von vereinsamten TBC-Patienten und traurigen Pflichtschullehrerinnen, von wortkargen Army-Feldwebeln und schicksalsergebenen Sekretärinnen, die genau den Mann heiraten, der sie todsicher unglücklich machen wird. Der Autor geht dabei mit äußerster Lakonik ans Werk, seine Geschichten erzielen mit sparsamsten Mitteln ein Maximum an Wirkung.

Outcast der Schule

In der ersten Story des Bandes, "Doktor Schleckermaul", wird die Geschichte eines Volksschul-Outcasts erzählt: Vincent Sabella kommt in eine neue Klasse. Der Bub hat viele Jahre in New Yorker Waisenhäusern verbracht, seit kurzem lebt er bei Pflegeeltern in einem gediegenen Mittelschichts-Städtchen in der Nähe der Hudson-Metropole. Als Sabella die neue Klasse betritt, mustern ihn seine Mitschüler verächtlich: Seine Kleidung, der Slang und die gelben Zähne weisen ihn unzweifelhaft als Unterschichtler aus.

Die abgetragene Kleidung des Kleinen, die geduckte Haltung, die krächzende Stimme, all das macht ihn von Anfang an zum Klassenparia. Dass ihn Miss Price, die junge Lehrerin, aus naiver Gutwilligkeit heraus gegenüber seinen Mitschülern bevorzugt, macht den Knirps erst recht zum Klassensozialfall. Richard Yates zeichnet das einfühlsame Porträt eines Außenseiters, mit Takt und Empathie, aber auch mit leisem, unaufdringlichem Witz.

Ein durchschnittlicher Loser

In seinen formvollendeten Kurzgeschichten beweist der 1926 geborene und 1992 verstorbene Autor einen klaren Blick für soziale Differenzen, Yates schreibt cool, präzise, unsentimental. Eine Edward-Hopper-hafte Melancholie liegt über diesen Storys.

Von einem Durchschnitts-Loser handelt auch die Erzählung "Ein Masochist". Geschildert wird ein schicksalsschwangerer Tag im Leben des Angestellten Walter Henderson: der Tag, an dem er gefeuert wird. Er ist der geborene Verlierer, einer, der sich auf perverse Weise wohl fühlt in der Rolle des Opfers. Yates zeigt seinen Protagonisten als Schussel vom Dienst, als einen, der zwanghaft heftig gegen Türen drückt, auf denen "Ziehen" steht. In seinem Job fühlt sich Walter überfordert, er bewältigt die Aufgaben nicht, die ihm sein Chef anvertraut hat.

"Walt, ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden", sagte sein Vorgesetzter. (...) "Mister Harvey und ich sind widerstrebend zu dem Schluss gekommen, dass es am besten wäre, Sie gehen zu lassen. Das ist", fügte er rasch hinzu, "nicht gegen Sie persönlich gerichtet. Wir haben hier eine hoch spezialisierte Arbeit, und wir können nicht von jedem erwarten, dass er immer auf dem neuesten Stand ist."

Tief empfundene Hoffnungslosigkeit

Richard Yates schildert das Drama einer beruflichen Demütigung: das Ausräumen des Schreibtischs, die Mitleidsbekundungen der Kollegen, die Sekretärin, die aus allen Wolken fällt, der tragische Abgang zwischen zwei sich schließenden Lifttüren, die Ahnungslosigkeit der Kinder zu Hause, die Frau, die ängstlich um den niedergeschmetterten Gatten bemüht ist - der Autor trifft genau den richtigen Ton in dieser traurigen Geschichte.

Vielleicht gibt die Traurigkeit dieser Erzählung auch einen Hinweis darauf, warum Richard Yates so lange kaum zur Kenntnis genommen wurde. Wie durch die Short-Storys Raymond Carvers spukt auch durch Yates' Geschichten eine tief empfundene Hoffnungslosigkeit, eine elegische Trostlosigkeit, die gewiss nicht von jedermann goutiert wird. Einen schwer zu leugnenden Vorzug haben diese Geschichten allerdings: ihre Wahrhaftigkeit. In dieser Erzählsammlung lassen sich einige jener Kurzgeschichten nachlesen, die Richard Yates' Ruhm mitbegründet haben. Diese Short-Stories gehören mit zum Vollkommensten, was in diesem Genre je geschrieben wurde.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 11. Juni 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Richard Yates, "Elf Arten der Einsamkeit", aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube und Hans Wolf, Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3421058598