Die Erwartungen sind hoch

Polen

Am 9. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Einen Monat lang wird "König Fußball" das dominierende Thema in den Medien und der Gesellschaft sein. Bis dahin stellt Ihnen oe1.ORF.at die 32 teilnehmenden Nationen vor.

Steigen Sie in einen polnischen Nachtzug. Kämpfen Sie sich zum Schaffner vor, um eine Fahrkarte zu lösen. Er wird ihnen zunächst erklären, der Zug sei ausgebucht. Natürlich wird er Ihnen dann trotzdem ein geräumiges Schlafwagenabteil zuweisen: erste Klasse, russische Bauart, dunkle Holzvertäfelung. Sofern Sie sich vorher bereit erklärt haben, ihm den Fahrpreis zu zahlen, ohne im Gegenzug einen Beleg oder eine Fahrkarte zu erhalten.

Ach, die Korruption, sie ist so allgegenwärtig. Niemanden hat es in Polen überrascht, als Transparency International kürzlich nachwies, dass das Land im EU-Vergleich in dieser Hinsicht Spitzenreiter ist.

Das vergangene Jahr wurde von beispiellosen Staatsaffären überschattet. Die postkommunistische Linke hat sich bei der Privatisierung von Staatsbetrieben schamlos bereichert und wurde abgewählt. Stärkste Kraft ist nunmehr die Partei der Zwillingsbrüder Lech und Jaroslaw Kaczynski mit Namen "Recht und Gerechtigkeit", die gegen die Aushöhlung von Familienwerten, vorehelichen Sex, Homosexualität, vermeintlich geschichtsrevisionistische Deutsche und die Liberalisierung der Wirtschaft wettert.

Es scheint, als würde das ganze Land derzeit zwischen Wahrhaftigkeitsemphase und einer allzu großzügigen Auslegung des Rechtsstaates hin- und herpendeln. Womöglich hängt es mit der Ablassdoktrin des polnischen Katholizismus zusammen: Sünden führen nur zur vorübergehenden Zermürbung, dann folgt die nächste Beichte.

Ein ausgesprochen häufig verwendetes polnisches Wort ist "zalatwiac". Es heißt soviel wie "es irgendwie hinkriegen", aber auch: "jemanden reinlegen". Man war und ist Meister in der Verstellungskunst. Polen hatte schließlich bereits im 16. Jahrhundert ein ausgeprägt aristokratisches Kulturleben entwickelt, mit allen Facetten intriganter Schauspielkunst.

So wurde das Land zum eigenwilligsten Satellitenstaat des Ostblocks: Die Kollektivierung der Landwirtschaft funktionierte nicht recht, die Macht und die Folklore der katholischen Kirche waren durch die Staatspartei nicht zu begrenzen.

Ressentiments gegenüber dem Staatswesen haben sich jedenfalls auch nach der Wende fortgesetzt. Die junge Demokratie hat sich trotz eines beachtlichen Wirtschaftswachstums und einer deutlichen Steigerung des privaten Wohlstandes noch nicht stabilisiert. Der Sejm, das polnische Parlament, weist alle vier Jahre ein jeweils neues, völlig unübersichtliches Parteienspektrum auf.

Allerdings hat die EU an Ansehen gewonnen, seitdem die Agrarbeihilfen zu fruchten beginnen. Nicht zuletzt für die junge Generation birgt sie die Hoffnung, dass ihr Land eine Balance zwischen einem kriminellen "zalatwiac" und der "prawda", der Wahrheit moralischer Eiferer findet.

Übrigens: Von der polnischen Elf spricht kaum jemand gerne, es heißt, sie sei keine Turniermannschaft. Gegen Deutschland hat sie bisher kein einziges Mal gewonnen. Ob sie es irgendwie und irgendwann einmal hinkriegt?

Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.

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