Ein Perspektivenwechsel
Humanismus als Leitkultur
Für die einen ist es ein Unwort, für die anderen ein Schlüsselbegriff in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Debatte: der Begriff "Leitkultur". Der Ex-Politiker Julian Nida-Rümelin fordert nun eine "kulturelle Leitidee".
8. April 2017, 21:58
Wo religiöse, ethnische und kulturelle Differenzen innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft diese vor eine Zerreißprobe stellen, erscheint eine Verständigung auf Verbindliches als unabdingbar. Ist eine "Leitkultur" des Rätsels Lösung? Doch was ist eigentlich damit gemeint - und wie lässt sie sich einfordern?
In dieser Debatte meldet sich nun ein Philosoph und Ex-Politiker zu Wort, der populistischer Töne und knalliger Thesen nicht verdächtig ist und der über den Tellerrand der Tagesaktualität hinauszublicken gewohnt ist: Julian Nida-Rümelin. Er glaubt, die Lösung im Rekurs auf die Vergangenheit gefunden zu haben und proklamiert den "Humanismus als Leitkultur", wie sein neues Buch heißt.
Erneuerter Humanismus
Freiheit, Gleichheit, Autonomie, Respekt, Toleranz und Gerechtigkeit: Das sind einige der verbindlichen Werte, die Nida-Rümelin unter dem Oberbegriff "Humanismus" zusammenfasst. Er möchte anknüpfen an "die große Tradition der europäischen Wissenschafts- und Bildungsgeschichte", ohne freilich dabei eine bestimmte historische Ausprägung des Humanismus wiederbeleben zu wollen.
Nida-Rümelin spricht stattdessen von einem "erneuerten Humanismus". Dieser "erneuerte Humanismus" wird als Basis betrachtet einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft, er ist quasi ihr Minimalkonsens, ihre "Leitkultur".
Definition über Wertekonsens
Die Bürger- oder Zivilgesellschaft definiere sich nicht durch Nationalität, religiöse Zugehörigkeit oder kulturelle Tradition, so Nida-Rümelin, sondern durch einen Wertekonsens, einen normativen humanistischen Grundkonsens, der die Freiheit und das Recht des Einzelnen über jede Kollektiv- oder Staatsräson stelle.
Was hält uns in einer multikulturellen Gesellschaft zusammen, welche Werte und Normen, die universellen Geltungsanspruch haben? Zum Beispiel die gleiche Freiheit und Autonomie jeder einzelnen Person, was z. B. die Unterordnung von Frauen unter Männer ausschließt; oder der respektvolle Umgang miteinander, unabhängig welcher Rasse, welcher Religion, welcher Herkunft man ist.
"Humanismus als Leitkultur" von Julian Nida-Rümelin ist keine brandaktuelle Antwort auf eine zurzeit viel diskutierte Frage. Das Buch besteht aus (zu ganz unterschiedlichen Anlässen gehaltenen) Reden und Schriften aus den letzten zehn Jahren, aus insgesamt 19 Texten und einem Interview, gruppiert in verschiedene Sektionen wie "Bildung und Kultur", "Kunst und Lebenswelt" und "Perspektiven der Zivilgesellschaft". Das Schlagwort "Leitkultur" kommt dabei nur auf dem Buchumschlag vor, in den Texten selbst ist stattdessen von "kultureller Leitidee" die Rede.
Kulturelle Regeln
Wie aber kommen wir dahin, den Humanismus, den "erneuerten Humanismus" à la Julian Nida-Rümelin, als unveräußerlichen Kern, als "Leitkultur" in unserer Gesellschaft zu verankern? Wie kann sichergestellt werden, dass aus Idealen Normen werden, aus frommen Worten verbindliche Maßgaben?
Wir haben einen Rechtsstaat. Die verschiedenen Regeln dieses Rechtsstaates in allen europäischen Demokratien bringen einen Teil dieser humanistischen Ordnung zum Ausdruck. Eine humane Kultur bedarf alltäglicher Umgangsformen, die nicht rechtlich sanktioniert werden können.
"Philosophen können lediglich einen Beitrag zur Begriffsklärung und Kohärenzprüfung, zur Darstellung und Analyse verschiedener (...) Konzeptionen leisten", schreibt Julian Nida-Rümelin. Man darf von ihnen Denkanstöße, nicht so sehr detaillierte Problemlösungen und Handlungsanweisungen erwarten. Auch der Autor von "Humanismus als Leitkultur" äußert sich vorzugsweise abstrakt und allgemein - und zitiert und umkreist Begriffe mehr als er sie expliziert. Provozierendes bleibt leider Fehlanzeige. Ob solch ein Buch der Leitkultur-Debatte wichtige Impulse geben kann, bleibt fraglich.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Julian Nida-Rümelin, "Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel", Verlag C. H. Beck, ISBN 3406543707