Auf in die Natur!

Sisyphos im Beserlpark

Frischluft fördert die Gehirntätigkeit. Und wenn einem partout nichts für eine Glosse einfallen will, dann kann nur genau diese jene anregen. Und mit ein bisschen Glück und Beobachtungsgabe bringt ein ausgedehnter Spaziergang auch Inspiration.

Manchmal soll man eine Glosse schreiben, und es fällt einem nichts ein. Genau gesagt, das eine oder andere fiele einem vielleicht doch ein, aber nichts Griffiges. Der morgige Zahnarzttermin, der schon im Vorfeld ein Trauma verursacht... offensichtlich unbrauchbar. Der eingeschriebene Brief vom Finanzamt, der seit einigen Tagen auf der Post zur Abholung liegt... nicht wirklich glossenwürdig. Mangels Kenntnis des Inhalts kann ich auch nicht viel darüber sagen. Das Schreiben einer Glosse, zu der einem nichts einfällt... auch nicht sehr originell.

Also geht man eine Runde im Park spazieren und hofft auf Inspiration. Aber nichts Neues in der Natur. Die Blätter sind grün, wie sie es der Jahreszeit gemäß sein sollten. Die Sonne scheint oder scheint nicht, weil gerade hinter der Wolkendecke verborgen. Das wechselt, wie schon seit Äonen. Alles geht seinen gewohnten Gang. Die Ameisen krabbeln, die Fliegen fliegen, die Menschen joggen. Manche gehen auch ganz normal spazieren, so wie ich, benutzen dabei aber Schistock-artige Gebilde, die sie in den Boden der Parkwege stechen. Man nennt das "Nordic Walking", wie ich aus diverser Zeitungslektüre weiß. Weil die Parkwege aber ordnungsgemäß asphaltiert sind, und durchaus nicht weich wie Schnee, gelingt es ihnen nicht, ihre Stöcke in den Boden zu treiben. Unverdrossen versuchen sie es trotzdem bei jedem Schritt. - Was indes nur einmal mehr beweist, dass des Menschen Grundgleichnis das des Sisyphos ist. Gibt das eine Glosse her?

Die Tauben gurren, wie mir scheint, aber ich kann die Lautäußerungen der Tauben leider nicht von jenen der Krähen unterscheiden. Meine zoologischen Kenntnisse sind dürftig... Bringt glossenmäßig also nichts.

Eventuell fiele mir auf, dass die alten Frauen im Park nach wie vor gern die Tauben füttern, obwohl das nach stadtamtlicher Verordnungslage mittlerweile verboten ist, soweit ich informiert bin. Sie füttern indes nicht die Krähen. - Bemerkenswert deshalb, weil Krähen, wie in einschlägigen Abhandlungen immer wieder zu lesen, wesentlich intelligenter sind als Tauben. Das Fütterungsverhalten der alten Frauen im Park zeigt einmal mehr, dass nur die Dummen das menschliche Mitgefühl evozieren. Die Klugen hingegen müssen selbst sehen, wo sie bleiben... Na gut, das füllt offenbar auch keine Glosse.

Indes bringt es mich zu Sisyphos zurück. Dieser ist ja der Ahnherr und Patron der Listenreichen, der allzu Klugen, und genau dafür wurde er ja bestraft. Durch seine einfallsreiche Tücke gelang es ihm, so berichtet Homer, Thanatos, den Tod selbst, zu fesseln und damit seine Macht zu zerstören. Als die Götter ihn mit vereinten Kräften schließlich doch in die Unterwelt geschafft hatten, übertölpelte er mit einer gefinkelten List deren göttlichen Aufseher und entkam wieder.

Meinerseits darf ich die bescheidene Frage stellen: Ich habe weder den Tod gefesselt noch sonstige Götter arglistig hintergangen, wofür werde ich also bestraft?

Das allerdings bringt mich auf Camus. In seinem Essay "Der Mythos des Sisyphos" gewinnt der Franzose Albert Camus der scheinbar tristen Situation des Helden aus dem alten Griechenland nur Positives ab. Dessen Strafe, die ewige Sinnlosigkeit seines Unterfangens, seinen Stein auf den Berg hinauf zu rollen, versinnbildlicht ja die Absurdität des menschlichen Lebens an sich. Sie bestehe, so Camus, im Widerspruch zwischen der objektiven Sinnlosigkeit der Welt einerseits, der unbezwingbaren Sehnsucht des Menschen nach Sinn andererseits.

Wir leben um diesen nicht überbrückbaren Widerspruch gleichsam herum: So bleibt das menschliche Tun, wie jenes des Sisyphos, wie auch meines, wie ich annehmen muss, inklusive des Glossen-Schreibens, zwar immer sinnlos und absurd, aber genau darin gewinnt der Mensch seine Freiheit. Die äußerste Beharrlichkeit in der Sinnlosigkeit sei nichts anderes als die gelungene Selbstverwirklichung. "Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm", schreibt Camus, um zu schließen: "Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz zu füllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."

Ich bezweifle, dass Camus dabei an die "Nordic Walker" im Park gedacht hat, oder selbst an meine Glossenschreiberei. Dennoch will ich den Leser mit diesem tröstlichen Gedanken entlassen.