Der regierende Weltmeister

Brasilien

Am 9. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Einen Monat lang wird "König Fußball" das dominierende Thema in den Medien und der Gesellschaft sein. Bis dahin stellt Ihnen oe1.ORF.at die 32 teilnehmenden Nationen vor.

142 Mal und insgesamt 11.112 Minuten lang hat der rechte Verteidiger Cafu für die brasilianische Nationalmannschaft, also für sein Land gespielt. Jetzt, kurz vor Beginn der WM in Deutschland, beklagt er sich über die Kritiker: "1994 hieß es, ich sei zu jung, 1998, ich könne nicht flanken, 2002, ich könne nicht decken. Was wird man wohl 2010 sagen?"

Cafu, setzen wir einmal voraus, wird auch im deutschen Sommer des Jahres 2006 die rechte Seite rauf und runter rennen, vorausgesetzt, er erholt sich von seiner Verletzung. Denn sein Coach, Carlos Alberto Parreira, glaubt an den Haudegen so vieler Schlachten, der wie kein anderer Spieler seine Philosophie verkörpert.

Die Leidenschaft des Brasilianers, sagt Parreira, muss sich mit Arbeit und Disziplin verbinden. Mit diesem System machte Parreira im Jahr 1994 Brasilien, nach einer Durststrecke von vierundzwanzig Jahren, wieder zum Weltmeister. Noch heute werfen ihm viele Brasilianer einen Verrat am Fußball als einer schönen Kunst vor, am Mythos von Pelé, Tostao und Rivelinho.

Brasilien ist ein reiches Land mit vielen armen Menschen. Und die armen Menschen waren es, die im Jahr 2002, als Brasilien zum fünften Mal Fußball-Weltmeister wurde, einen Mann aus dem Volk zum Präsidenten wählten: Luis Ignacio Lula da Silva. Er versprach einen radikalen Systemwechsel und den Abschied von Korruption und Klüngelwirtschaft.

Sein erstes Ziel war die Bekämpfung des Hungers. Vier Jahre später ist das ehrgeizige Projekt ebenso gescheitert wie das Versprechen einer moralischen Politik. Lulas eigene Linkspartei sah sich in einen großen Korruptionsskandal verwickelt, der einflussreichen Regierungsmitgliedern die Posten kostete. Das Programm zur Bekämpfung des Hungers hat jedes emanzipatorische Ziel verloren und ist zur reinen Sozialhilfe geworden; ein Instrument in den Händen von Politikern, um die Wählerschaft bei Laune zu halten. Aber natürlich hat Politik nichts mit Fußball zu tun - und natürlich ist es viel schwieriger, ein System zu verändern, das in der Geschichte des Landes so verwurzelt ist wie in den Köpfen der Regierenden.

Deshalb weiß der Trainer Carlos Alberto Parreira, ungleich erfolgreicher mit seiner Ethik der Arbeit und der Disziplin als der Präsident: "1958, 1962, 1970, 1994 und 2002 ist Brasilien Weltmeister geworden. Nie hat sich danach die soziale Situation verbessert. Und auch wenn wir zum sechsten Mal Weltmeister werden sollten, wird Brasilien ein Land mit großen sozialen Gegensätzen bleiben, ein Land voller Hunger und Sattheit, voller Elend und Glanz, voller Gewalt und friedvoller Schönheit. Der Fußball wird daran nichts ändern. Das muss die Politik tun. Irgendwann."

Ronaldinho und die Seinen aber werden jetzt erst einmal Deutschland und die Welt verzaubern - oder aber sich selber besiegen. Denn sonst kann es niemand.

Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.

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