Russische Science-fiction

Bro

Anhand der sozialen Utopien des 20. Jahrhunderts zeigt Vladimir Sorokin auf, wie beliebig Gesellschafts- und Zukunftstheorien sein können. Im Mittelpunkt steht die Sekte des "Ursprünglichen Lichts", deren Mitglieder einem Meteoriten entstammen.

"Bro" beginnt im Stil des russischen Realismus und erzählt zuerst die sorgenfreie, großbürgerliche Kindheit von Alexander, der am 30. Juni 1908 nahe St. Petersburg auf die Welt kommt. Zur gleichen Zeit schlägt in Sibirien ein geheimnisvoller Meteorit ein.

20 Jahre später begibt sich Alexander als Student auf eine Expedition und findet das Ding aus dem All - eine gigantische Eiskugel. Durch den körperlichen Kontakt mit dem Eis wird Alexanders Herz erweckt und erfährt, dass es Teil einer Gemeinschaft von 23.000 Brüdern und Schwestern ist, die in Form von Lichtstrahlen das gesamte Universum erschaffen haben soll. Das Ursprüngliche Licht, der Kern der Sekte, würde, laut Vladimir Sorokin, für die Hoffnungen der Menschen stehen.

Vereinigung der 23.000

Wenn alle 23.000 Wesen wieder vereint sind, wird die schlechte, niederträchtige Welt untergehen. Nach und nach finden Alexander, der sich jetzt "Bro" nennt, neue Mitglieder, deren Herzen in einem brutalen Ritual mit einem Hammer aus dem kosmischen Eis geklopft werden. Der quasidokumentarische Stil zu Beginn des Romans geht über in einen stakkatoartigen, nüchternen Erzählmodus. Die Sprache stellt eine immer größere Distanz zur herkömmlichen Welt der Menschen her: Alltagsbegriffe wie Autos und Züge werden zu "Eisenmaschinen" bzw. "längliche Eisenmaschinen, die auf Gleisen fahren", die Normalsterblichen sind die "Fleischmaschinen".

Fast gebetsmühlenartig wird die immer gleiche Prozedur beschrieben: Blonde, blauäugige Menschen werden aufgeklopft und um die Schwestern und Brüder zu finden, wird gestohlen, intrigiert und gemordet, man bedient sich dabei Methoden der russischen Bolschewiken, sowie der Nationalsozialisten.

Das Scheitern sozialer Utopien

Obwohl "Bro" auf eine typisch Sorokin'sche Art und Weise radikal ist, stimmt der "bad boy der russischen Gegenwartsliteratur" hier ruhigere Töne an - kein Kannibalismus, keine Sex-Orgien, kein Schmuddel-Hardcore. Zwar werden die gewaltsame Herrschaft der Bolschewiken und der Nazis und die barbarischen Rituale der parareligiösen Licht-Sekte weder kommentiert noch relativiert, doch im Gegensatz zu seinen früheren Werken schockiert Sorokin seine Leser nicht mehr.

In "Bro" sind Sorokins Absichten durchschaubarer als in den früheren Romanen. Anhand der sozialen Utopien des 20. Jahrhunderts zeigt er auf, wie beliebig Gesellschafts- und Zukunftstheorien sein können, denn auch die Wiederherstellung des Ursprünglichen Lichts, die seine Sekte anstrebt, wird wohl scheitern. Neue Brüder und Schwestern werden zur Gemeinschaft hinzustoßen, doch ebenso viele werden auch sterben, die dann zwar wiedergeboren werden, doch auch wieder gefunden werden müssen. Die magische Zahl von 23.000 kann somit wohl nie erreicht werden. Die Hoffnung auf das ewige Glück ist zum Scheitern verurteilt, die Zukunft nicht sehr rosig.

Laut Sorokin spiegeln sich in diesem Zukunftsszenario gewisse Eigenschaften der russischen Gesellschaft wider: "Wir Russen leben meist in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, oder wir leben, indem wir uns an die Vergangenheit erinnern", meint Sorokin. "Und in diesem Roman spiegelt sich die Eigenschaft der Russen, sich mit den Gedanken an die Zukunft zu quälen."

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Vladimir Sorokin, "Bro", aus dem Russischen übersetzt von Andreas Tretner, Berlin Verlag, ISBN 3827006104