Blut in den Schuhen

Trinidad und Tobago

Am 9. Juni beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Einen Monat lang wird "König Fußball" das dominierende Thema in den Medien und der Gesellschaft sein. Bis dahin stellt Ihnen oe1.ORF.at die 32 teilnehmenden Nationen vor.

Leo Beenhakker sitzt in der Hotellobby und philosophiert über den Fußball zwischen dem zehnten und dem zwanzigsten Breitengrad.

"Es ist unglaublich", sagt er, "ich habe hier in der Karibik jetzt so viele Spiele gesehen, und wie in Europa spielen immer zwei Mannschaften - aber nie hat jemand den Ball." Natürlich meint der Niederländer das nicht ganz wörtlich und korrigiert: "Sie berühren ihn ein-, zweimal und verlieren ihn dann meist."

Der Holländer ist Nachfolger des einheimischen Bertille St. Clair, der mit der Mannschaft in den ersten drei Qualifikationsspielen nur einen einzigen Punkt gewonnen hatte. Acht Wochen nach Dienstbeginn gab sich Beenhakker deshalb realistisch: "Ich weiß, dass ich keine gute Mannschaft habe, doch sie ist auch nicht schlechter als die von Costa Rica, Guatemala oder Panama. Also werden wir versuchen, die besten unter den Schlechten zu sein."

Dieses Ziel wurde professionell verfolgt. Das Mannschaftsquartier im führenden Hotel Trinidads genügte ebenso höchsten Ansprüchen wie die medizinische Betreuung und die Ausrüstung. Die brasilianische Marke Finta kleidet die Mannschaft ein, die allerneuesten Bälle von adidas gibt es im Training dutzendweise. Was also ist anders als bei Real Madrid? Beenhakker zögerte keine Sekunde: "Alles!"

Dass auf Trinidad - anders als auf Tobago, wo es sonst keine Erwerbsquellen gibt - der Tourismus trotz guter Voraussetzungen keine Rolle spielt, ist ein Indiz für die Grundeinstellung der Leute: Bloß nicht mehr tun als nötig. Deshalb hätten, so Beenhakker, auch die Fußballer "den Kontakt zu den Leistungen in Europa oder Südamerika völlig verloren".

Aufgeben wollten sie trotzdem nicht. In den folgenden Wochen lehrte die Nationalmannschaft ihre Anhänger allerdings das Zittern. Nach knappen Niederlagen in Mexiko und den USA - und vier Punkten nach sechs Spielen - reaktivierte Beenhakker den siebenundreißig Jahre alten Co-Trainer Russel Latapy. Vor dem Spiel gegen Guatemala Anfang September forderte der Verband seine Spieler kategorisch auf: "Spielt mit Blut in den Schuhen!" Wie immer man sich das vorstellen mag, es funktionierte offenbar: Latapy traf, in den letzten fünf Minuten steuerte Stern John noch zwei Tore: 3:2.

Es folgte eine Niederlage in Costa Rica. Also standen die Spieler im Oktober aufs Neue unter Druck, siegten aber wiederum dank Stern John mit 1:0 in Panama. Trotz eines verschossenen Elfmeters und eines zwischenzeitlichen Rückstands gelang der vierte Sieg: 2:1 gegen Mexiko, das sich allerdings zuvor bereits für die WM qualifiziert hatte. Torschütze? Na, klar: Stern John.

Der vierte Platz in Nord- und Mittelamerika war erreicht, zwei Relegationsspiele gegen Bahrain, dem Fünften aus Asien, standen bevor. Das Heimspiel auf Trinidad brachte eine Enttäuschung, nur ein 1:1. Am 16. November aber winkte in Bahrains Hauptstadt Manama das Glück. Das einzige Tor gelang Dennis Lawrence, dem Mann aus Englands vierter Liga. Umgehend und höchst folgerichtig erklärte Ministerpräsident Patrick Manning den Tag danach zum nationalen Feiertag.

Gearbeitet hatte seit dem Anpfiff in Manama auf Trinidad und Tobago ohnehin niemand mehr und mit dem Schlusspfiff begann auf beiden Inseln ein einziges, riesiges Fest. Der Karneval begann einfach sechs Wochen früher und dauert bis heute an. Was hatte Leo Beenhakker im Juni 2005 gesagt? "Es ist unglaublich!"

Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.

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