Der Mensch irrt, solange er strebt

Die Kunst, Fehler zu machen

Irrtümer und Defizite sind heute weitgehend tabu - oder dürfen zumindest nicht eingestanden werden. Dem tritt Manfred Osten mit seinem neuen Sachbuch nun entgegen: Er plädiert für eine "fehlerfreundliche Lebenskunst".

Wo Technikbesessenheit, Fortschrittwahn und einseitige Ratioorientiertheit überhand nehmen, laufen wir Gefahr, eine Kunst zu verlernen, die eine zutiefst menschliche ist, die Weiterentwicklung und Humanität im Grunde erst ermöglicht: die Kunst, Fehler zu machen.

"Die Kunst, Fehler zu machen" nennt Manfred Osten daher sein essayistisches Plädoyer gegen die seiner Meinung nach immer mehr um sich greifende Fehlerangst und Irrtumstabuisierung, gegen eine "Null-Fehler-Kultur" und für eine "fehlerfreundliche Lebenskunst". Aber haben wir diese Kunst denn tatsächlich verlernt? Widerlegt nicht die Tatsache, dass ein "Lexikon der populären Irrtümer" zum Bestseller avanciert die These vom Verlust der "Irrtumskultur"? Im Gegenteil, glaubt Manfred Osten, spekuliert doch ein auf die Entlarvung von Scheinwissen erpichtes Kompendium auf einen Leser, dem Bildungsbesitz vor Erfahrungshunger geht, vermeintlich gesichertes Wissen vor fundamentale Zweifel.

Prominente Fehler-Apologeten

Manfred Osten zitiert gern und viel In seinem 100-Seiten-Bändchen versucht er, Grundsätzliches über Fehler zu referieren und dabei prominente Fehler-Apologeten zu Wort kommen zu lassen - von Lichtenberg bis Weizsäcker, von Humboldt bis Karl Popper. Und immer wieder einen Autor, der ihn ganz besonders inspiriert hat: Goethe. "Goethe ist ja derjenige, der wie kein anderer über die Fehler nachgedacht hat. Sie werden sich erinnern an das berühmte Wort aus dem 'Faust': 'Es irrt der Mensch, solang er strebt', so Osten.

Manfred Osten geht es um die Ambivalenz von Fehlern, die er durch eine Fülle von Beispielen und Positionen illustriert; erwähnt dabei Befunde der Hirnforschung ebenso wie solche der Soziologie und versucht so, die Bedeutung von Fehlern und Fehlerbewusstsein in verschiedensten Bereichen wenn nicht zu diskutieren, so doch wenigstens anzuschneiden: in Alltag und Wissenschaft, in der Evolution, in Wirtschaft und der Politik - und in der Geschichte.

Versuch und Irrtum

Obwohl "fast alles, was wir geworden sind und erworben haben", so Osten, mit dem Soziologen Bernd Guggenberger argumentierend, "unserer Irrtumsfähigkeit, dem Prinzip von Versuch und Irrtum geschuldet" sei, zeige sich doch heute mehr und mehr eine Tendenz zum "Irrtumsverbot", zum Schwinden der "Irrtums- und Fehlertoleranz". Schuld daran: eine immer komplexer werdende Welt mit einer technisch-wissenschaftlichen Entwicklung, die immer schneller und unübersichtlicher verlaufe. Mit der "raschen Zunahme von erfahrungslosem Wissen vor dem Horizont virtueller Welten" laufe der Mensch Gefahr, "bei der Bewältigung von Fehlern zunehmend überfordert zu sein", meint Osten.

"Wir stehen hier in einem Problemzusammenhang, den wir in Extremfällen wie Tschernobyl erfahren: dass wir plötzlich in avancierte, komplexe Situationen hineingeraten, die wir dann nicht mehr mit dem alten Frühwarnsystem unserer sinnlichen Wahrnehmungen, unseres alten Apparats von Fehlererkenntnissen, mit dem wir geboren sind, bändigen können", meint Osten.

Pro Fehlerkultur

Was also schlägt Osten vor? Ein Patentrezept darf man von ihm nicht erwarten. Immerhin kann man aus seinem kleinen Fehler-Traktat ein eindeutiges Plädoyer für einen humanistischen Bildungsbegriff herauslesen, für Werte- und Geschichtsbewusstsein, für das, was der Autor "gedächtnisgestützte Urteilskraft" nennt. "Denn solange der Mensch sich auf Erfahrung stützt, weiß er offenbar noch, was ein Fehler ist", ist Osten überzeugt. Eine Bildung aber, die nur mehr ratio- und zukunftsorientiert sei, könne ein Fehlerbewusstsein nicht mehr entwickeln.

Ganz hoffnungslos aber blickt Manfred Osten nicht in die Zukunft. Schließlich erkennt er bereits "erste Anzeichen einer langsam sich entwickelnden Fehlerkultur": im Bereich der Medizin, wo für Irrtümer und Therapiefehler ein anonymes und sanktionsfreies Fehlermeldesystem für den Krankenhaussektor entwickelt wurde; im Bereich der Industrie, wo zum Zweck der Qualitätsverbesserung verstärkt auf Fehlerbesprechung gesetzt wird; und auch im gesellschaftlichen Bereich, wie die von Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu initiierte "Kampagne für Vergebensforschung" zeigt. Entscheidend aber wird laut Osten sein, dass die "Fehlerkultur" sich verbindet mit einer "Vertrauenskultur", denn die Kunst, Fehler zu machen, ist die Kunst des Dialogs. Fehler müssen kommuniziert werden, um fruchtbar gemacht, um abgestellt und korrigiert zu werden - oder einfach nur akzeptiert zu werden.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

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Buch-Tipp
Manfred Osten, "Die Kunst, Fehler zu machen", Suhrkamp Verlag (Bibliothek der Lebenskunst), ISBN 3518417444