Erinnerungen von Karl Dedecius

Ein Europäer aus Lodz

Karl Dedecius Buch ist nicht nur eine Autobiografie, es verkörpert gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte. In diesem Buch wird nicht nur seine eigene - von Flucht gekennzeichnete - Geschichte, sondern auch die seiner ganzen Generation lebendig.

"Literatur ist für mich der einzige Weg."

1938, ein Jahr vor Ausbruch des Krieges, besuchten wir Lemberg im Südosten des Landes. Ich ahnte noch nicht, dass mich ein Jahr später der Krieg wieder hierher verschlagen würde. Ich ahnte nicht, dass sich dieser Flucht eine lange Folge von Fluchten anschließen sollte, als Fortsetzung der vielen Fluchten meiner Vorfahren in früheren Generationen.

Um ein Leben auf der Flucht geht es in den Erinnerungen von Karl Dedecius. Anlässlich seines 85. Geburtstags hat der Übersetzer und Vermittler zwischen der deutschen und der polnischen Kultur seine Biografie niedergeschrieben - eine Biografie, in der sich die ganze Geschichte Europas zu spiegeln scheint:

"Ich bin aus Polen vertrieben worden, war in Russland in Gefangenschaft, habe in fremden Ländern mindestens zehn Lager kennen gelernt, wurde dann auf einmal in die DDR entlassen, bin dann aus der DDR nach dem Westen geflüchtet, dann aus dem Norden nach dem Süden", erzählt Dedecius. "Mein ganzes Leben ist also eine Flucht."

Wehmütige Kindheitserinnerungen

Nicht ganz von ungefähr trägt Dedecius' Buch den Titel: "Ein Europäer aus Lodz". In dieser polnischen Stadt wuchs Karl Dedecius auf und besuchte das Gymnasium. Voller Liebe erinnert er sich an seine Kindheit. In den Beschreibungen seiner Familie, etwa seiner Großmutter, schwingt fast ein bisschen Wehmut mit, und gleichzeitig entsteht ganz nebenbei das Bild einer hart geprüften Generation.

Oma war damals über achtzig, sie konnte nicht mehr laufen und sprach wenig, war aber "lieb" und pflegeleicht und geistig präsent. Nur ihr Körper welkte sichtbar dahin, von Tag zu Tag mehr, geschwächt durch die vielen Geburten und Pflichten im Haushalt, im Dienste der zahlreichen Köpfe und Mägen, und durch die Arbeit in der Fassbinderei, die ihr Mann mit Sohn Oskar und einem Gesellen betrieben hatte. Offensichtlich war sie ihr Leben lang überfordert gewesen.

Mittler zwischen den Kulturen

Gleich nach dem Gymnasium wird Karl Dedecius zur Wehrmacht eingezogen, gerät in der Schlacht bei Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft und kehrt erst Jahre danach zu seiner Verlobten und späteren Ehefrau nach Weimar zurück. Aber die Ruhe währt nur kurz: Zwei Jahre später flüchtet das Paar erneut, diesmal nach Westdeutschland, wo Dedecius eine Stelle bei der Allianz-Versicherung findet. Ein Glück, wie er heute meint, schließlich hatte er keine Berufsausbildung vorzuweisen.

Aus dem Geschäftsstellenleiter der Allianz wird nach und nach ein Kämpfer für die polnische Kultur und Literatur, der zahlreiche polnische Autoren übersetzt und schließlich das "Deutsche Polen-Institut" in Darmstadt gründet. Als Mittler zwischen den Kulturen findet Dedecius seinen Weg, als Sprachrohr für zahlreiche polnische Dichter und Denker, die zuvor in Deutschland kaum beachtet worden waren.

Weit mehr als eine bloße Biografie

All dies hat Karl Dedecius in seinen Erinnerungen niedergeschrieben, die damit weit über eine bloße Biografie hinausgehen. Er erzählt von Treffen mit polnischen Literaten, von den Schwierigkeiten, die er bei seiner Arbeit hatte, aber auch von den schönen Momenten, in denen sich der europäische Geist zu verwirklichen schien. Er erzählt aber auch von den düsteren Seiten seines Lebens, von der Kriegsgefangenschaft, von Hunger und Angst.

Trotz all dem hat Karl Dedecius nie den Humor verloren und so sind auch seine Erinnerungen nicht düster oder freudlos, sondern immer von einem grundlegenden Optimismus getragen. Es sind eben Erinnerungen eines "Europäers aus Lodz", der im Zusammenwachsen Europas eine große Chance vor allem für die osteuropäischen Staaten sieht.

Mit seiner Biografie hat Karl Dedecius ein Buch vorgelegt, das gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte verkörpert, ein Buch, in dem die Geschichte einer ganzen Generation lebendig und intelligent dargestellt wird.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 14. Mai 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Karl Dedecius, "Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518417568