Lateinamerikas Theologie der Befreiung
Gott und Geld
Die Kirche ist in der zu 85 Prozent aus Katholiken bestehenden Bevölkerung Lateinamerikas eine machtvolle Fürsprecherin, vor allem durch die "Befreiungstheologie" mit ihrer "Option für die Armen". Aber wo Licht ist, ist auch viel Schatten.
8. April 2017, 21:58
Mehr als eine halbe Milliarde Menschen leben zwischen Mexiko und Feuerland. Die religiöse Dimension dieses Teils der Erde ist gewaltig. Die Angaben schwanken, aber ca. 85 Prozent der meist Spanisch sprechenden ethnisch gemischten Bevölkerung sind Katholiken. Daher stellt diese Region für die Katholische Kirche ein Hoffnungsgebiet dar.
Ebenso gewaltig sind aber auch die demokratiepolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Menschenrechte, Entwicklungshilfeprogramme, Schuldenerlass - wie hilft man am besten, am nachhaltigsten?
Das Evangelium als Grundbuch
Die so genannte "Theologie der Befreiung" ist ein wichtiger Aspekt der Religiosität Lateinamerikas: eine christliche Strömung, die man ursprünglich als eine "Theologie der Armen selbst" bezeichnen kann. Sie stellt sich gegen ökonomische Abhängigkeit und fordert eine Umgestaltung der Gesellschaftsordnung im Interesse der Armen. Das Heil, das die Bibel verkündet, wird nicht mehr nur auf das Jenseits bezogen, sondern auf die gesellschaftliche Realität im Hier und Jetzt.
"Unser Grundbuch war ja nicht 'Das Kapital' von Karl Marx, sondern das Evangelium", sagt Pastoraltheologe Franz Weber. Der Combonimissionar hat von 1984 bis 1991 im Nordosten Brasiliens eine Basisgemeinde: "Das Evangelium ist auf Veränderung angelegt, auch auf Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, betont er und weist darauf hin, dass dennoch weiterhin die Reichen überall auf der Welt immer reicher und die Armen immer ärmer würden.
Zwei US-Dollar pro Tag
40 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Die Armut und das Elend vieler Menschen sind erdrückend. 0,24 Prozent des österreichischen Bruttoinlandproduktes werden für Entwicklungshilfe ausgegeben. 0,7 Prozent sollten es sein; das hat Österreich bereits vor Jahren zugesagt:
"Bis zum Jahr 2015 haben wir die 0,7 Prozent erreicht, so Irene Feudenschuss-Reichl, Leiterin der Sektion für Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit im Außenministerium. Das sei eine politische Verpflichtung, und Österreich halte solche Versprechen ein.
EU-Lateinamerikagipfel
Am 12. und 13. Mai findet in Wien im Rahmen der österreichischen EU-Präsidentschaft ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und der Staaten Lateinamerikas und der Karibik statt. Parallel dazu werden soziale Bewegungen, kirchliche Gruppen und NGOs einen "Alternativengipfel" veranstalten.
"Es geht nicht um ein bisschen Brosamen, sondern um echtes Teilen, sagt die engagierte Journalistin Dolores Bauer, "und das verlangt ein großes Umdenken, auch für uns in Österreich!
Religion wie Sex und Zahnpasta
Lateinamerika gilt als "der Katholischste aller Kontinente. Doch in den letzten Jahren hat der Einfluss von evangelikalen Gruppen und Freikirchen stark zugenommen. "Tele-Evangelismus" spielt bei dieser Missionierung und Evangelisation eine wichtige Rolle. Charismatische Fernsehprediger, mitreißende Gottesdienste und berührende Glaubenszeugnisse, verpackt in hochprofessionelle Medienformate, werden vor allem von evangelikalen Gruppen und Freikirchen gezielt eingesetzt:
"Religion wird als Show präsentiert und wie Sex oder Zahnpasta vermarktet. Im Grunde genommen geht es den kommerziellen Sendern darum, Geld zu machen, meint dazu Christian Tauchner, ein Steyrer Missionar, der bis zum Vorjahr in Ecuador vor allem im Bereich Medien tätig war.
Schamanismus
Ein weiteres Schlagwort, das den Facettenreichtum der Religiosität Lateinamerikas widerspiegelt, ist der Schamanismus. In Lateinamerika gibt es unterschiedliche schamanistische Traditionen, die im Leben vieler Menschen auch heute eine zentrale Rolle spielen.
"Schamanismus ist nicht nur archaisch und aus alten Zeiten erhalten, sondern höchst aktuell und vor allem in einigen Großstädten Lateinamerikas sehr präsent, sagt die Wiener Kultur- und Sozialanthropologin Elke Mader: "Die Menschen nehmen die verschiedenen Praktiken der Heilung und des Verursachens von Unheil in Anspruch und haben kein Problem damit, sich gleichzeitig als gläubige Katholiken zu bezeichnen, weiß die Universitätsdozentin, die lange in Lateinamerika geforscht hat.
Afro-amerikanische Religionen
Durch Eroberung, Missionierung und Einwanderung überlagern sich Glaubensinhalte und Traditionen. Das Ergebnis sind religiöse Mischformen, so genannte "Synkretismen". In Lateinamerika vermischten sich indianische Glaubensvorstellungen mit dem Christentum. In vielen Gegenden kam es durch die aus Afrika importierten Sklaven zu einer weiteren Vermischung mit afrikanischen Glaubensvorstellungen.
Diese so genannten "afro-amerikanischen Religionen" bieten ein eigenes soziales Milieu an, das auch Außenseitern und Armen hohe Ämter mit hohem sozialen Prestige ermöglicht. Die verschiedenen Praktiken haben neben den rein religiösen und spirituellen Komponenten auch sehr starke soziale und therapeutische Funktionen.
Einsatz für Menschenrechte
"Die Frömmigkeit in Lateinamerika ist prinzipiell sehr emotionell, meint die Theologin Veronika Prüller-Jagenteufel, die vor kurzem drei Monate in Costa Rica und Guatemala verbracht hat: "Die Religion ist sehr bodenständig, sie schmeckt nach Erde und ist ein gutes Gegengewicht zum 'verkopftem' Christentum in Europa.
Besonders beeindruckt hat Prüller-Jagenteufel das starke Engagement der Katholischen Kirche für die Menschenrechte. Guatemala zum Beispiel hat 30 Jahre Bürgerkrieg erlebt, von 1966 bis 1996. Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung Guatemalas sind Maya. Die Bekämpfung der indigenen Bevölkerung durch die Militärregierung war zeitweise ein Genozid. Ganze Landstriche wurden flächendeckend bombardiert, die Indígenas systematisch umgebracht. Die Aufarbeitung der Gräuel dieser Jahre dauert bis heute an.
Glaube wichtiges Fundament
Die Polizeipräsenz nach Einbruch der Dunkelheit hat die christliche Palästinenserin Viola Raheb an ihre Heimat Palästina erinnert. Sie ist Mitglied des Netzwerkes für Friedenserziehung im Weltkirchenrat sowie Mitglied der Beratungskommission des Ökumenischen Rates der Kirchen für die Dekade zur Überwindung der Gewalt. In dieser Funktion war die Aktivistin und Schriftstellerin im brasilianischen Porto Alegre beim Welttreffen des Ökumenischen Rates der Kirchen:
"Der Glaube ist ein wichtiges Fundament, sagt sie, "besonders für Menschen in schwieriger Situation - auch der Glaube an eine positive Veränderung.
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Links
EU-Plattform - Lateinamerikagipfel
Enlazando Alternativas - Alternativengipfel