Die Gegenwart als intellektuelle Leerstelle
Vincenzo Consolo
Der 73-jährige sizilianische Schriftsteller Vincenzo Consolo war einer der ersten Kritiker Berlusconis. Mit leiser Beharrlichkeit kämpft er gegen den "Faschismus unter neuen Fahnen" an und sehnt sich nach ernsthafter Kulturpolitik.
8. April 2017, 21:58
Interview mit Vincenzo Consolo in italienischer Sprache
Vincenzo Consolo ist ein kleiner, bescheidener, älterer Herr, der mit leiser Stimme spricht und nicht zum Lautwerden neigt. Er ist Sizilianer, stammt aus der Provinz Messina und lebt den meisten Teil des Jahres in Mailand. Er ist 73 Jahre alt, trägt kurz geschnittenes graues Haar und hat es nicht eilig. Alle paar Jahre bringt er ein Buch heraus. Und dann dauert es oft lange bis zur Übersetzung.
Verhaltene Medienkritik
Consolos zuletzt ins Deutsche übersetzte Buch "Retablo" stammt eigentlich aus dem Jahr 1987, als der italienische Ministerpräsident noch Craxi hieß, aber bereits nach Kräften seinen Freund, den Bau- und Medien-Großunternehmer Silvio Berlusconi förderte. Berlusconis seichte Unterhaltung überschwemmte schon damals Italien. Vincenzo Consolo übte daran in dem Roman "Retablo" Kritik - verhalten allerdings, und nur dem aufmerksamsten Leser zugänglich.
Consolo verlegt die Handlung des Romans ist um 200 Jahre zurück, ins Barock, weil er "die Worte nicht findet, um die Gegenwart zu erzählen." Der Protagonist von "Retablo" schreibt einen Bericht über seine Reise durch Sizilien. Er will ihn, als Original, der Dame seines Herzens schenken, ihn also nicht drucken lassen:
Es soll eine einmalige Gabe bleiben und nicht von der Lawine seelenloser Bücher und Schriften verschüttet werden, (...) die heutzutage all die Bibliotheken überschwemmt, die Bücherläden, und sich über die Welt verbreitet.
Ideenfeindliche Medienlandschaft
Natürlich äußert sich Vincenzo Consolo auch - weniger verhalten - in Tageszeitungen, wie es einem italienischen Intellektuellen seit jeher zu politischen oder kulturellen Fragen ansteht.
Wenn früher Moravia oder Pasolini für die Tageszeitungen schrieben, da gab es auf provokante Artikel oft ein Riesen-Echo, eine große Debatte. Aber heute, selbst wenn Umberto Eco etwas in der Zeitung veröffentlicht, derzeit der berühmteste Schriftsteller des Landes, dann gibt es nicht dieses Medien-Echo, das die Stars des Unterhaltungsgeschäfts bekommen oder die Fußballstars, auch wenn sie Blödsinn reden.
"Faschismus unter neuen Fahnen"
Das Regime Berlusconis betrachtet Consolo sehr kritisch - aufgrund des enormen Einflusses, den der Fernseh-Impresario auf die Bevölkerung ausüben kann.
Es ist ein Regime, das noch gefährlicher ist als die alten Regime, weil es hinterlistiger, heimtückischer ist als das in die Augen springende Mussoliniregime oder die Christdemokraten. Es gab früher nicht die Instrumente, die es heute gibt. Was konnte denn Mussolini machen: Er hat sich auf einem Balkon mit seinen Posen produziert, übertragen vom Radio. Dagegen die heutigen Medien! Die haben die Möglichkeit, die Gedankenfreiheit einzuschränken.
Berlusconi, meint Consolo, propagiere den ewigen kleinbürgerlichen italienischen Faschismus unter neuen Fahnen. Mussolini habe wenigstens noch die Mafia bekämpft, sagt Consolo, der Sizilianer. Alle, die nach ihm kamen, haben sich dagegen bestens mit dem organisierten Verbrechen Siziliens arrangiert. Bis heute. Italien sei ein auf ewige Zeiten infantiles und unreifes Land, in dem sich nie die Idee eines demokratischen Staates geformt habe. Die Widerstandsbewegung, die Resistenza, war, so Consolo, ein ergebnisloses Zwischenspiel.
Sehnsucht nach Ernsthaftigkeit
Sicherlich: Der gramscianische Marxist Vincenzo Consolo ist ein wertkonservativer Kulturpessimist, für den alles immer nur noch schlimmer wird. Doch der Kulturpessimist Consolo sagt: Ich bin kein Pessimist. Bei den bevorstehenden italienischen Wahlen erwartet er geradezu selbstverständlich den Sturz des Cavaliere Berlusconi. Und dann müsse aufgeräumt werden, wie nach einer verheerenden Hochwasserkatastrophe:
Die unmittelbaren Schäden sind wirtschaftlicher und politischer Art, aber die fundamentalsten Schäden sind kultureller Art. Wir brauchen eine umfassende, tief greifende, ernsthafte Kulturpolitik, die in den Schulen beginnt, und natürlich eine Kulturpolitik für die Massenmedien, denn meine Mitbürger müssen wirklich rückerzogen werden, ich selbst auch, denn vielleicht hat jeder von uns unbewusst ein Stück Berlusconismus in sich, über das er sich nicht Rechenschaft ablegt.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 1. April 2006, 17:05 Uhr
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Buch-Tipp
Vincenzo Consolo, "Retablo", aus dem Italienischen von Maria E. Brunner, Folio Verlag, ISBN 3852563143
Links
Folio Verlag - Retablo