Publizistische Bestandsaufnahmen
Zwischen Einheit und Vielfalt
Europa ist vielfältig, Europa strebt nach Einheit. Eine gemeinsame Verfassung, viele verschiedene Sprachen. Eine Stimme nach außen, viele Stimmen im Inneren, auch kritische. Einheit in der Vielfalt. Das ist Europa - mehr als die Europäische Union.
8. April 2017, 21:58
Geert Mak ist einer der führenden niederländischen Publizisten. Grundlage für sein nun auch im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreiches Buch "In Europa" sind Reisen, die er im Jahr 1999 im Auftrag einer großen niederländischen Tageszeitung unternahm, sozusagen als Bestandsaufnahme Europas vor dem Millennium.
Seine Reise durch Zeit und Raum beginnt in Paris um 1900 und endet im Sarajevo der 1990er Jahre. Dazwischen liegen als historische und geografische Reiseziele unter anderem Verdun, Guernica, Auschwitz, Lourdes und Tschernobyl.
Europa ist noch heute geprägt von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, von höchst unterschiedlichen Modernisierungsgraden in Regionen, die geografisch nicht weit voneinander entfernt liegen. Obwohl sie fast Nachbarn sind, trennen sie Welten.
Während zur Jahrtausendwende in den europäischen Finanzzentren Angst vor dem Zusammenbruch der Computersysteme herrschte, nahm im südungarischen Vásárosbéc ein Lastwagen seinen Betrieb auf und ersetzte das Pferdefuhrwerk. Auch hier hielt die Moderne Einzug.
Mitten in Europa
Von September 2004 bis Dezember 2005 war der Wiener Historiker und Publizist Hannes Hofbauer auf Reisen in Bosnien-Herzegowina, in Weißrussland, in der Ukraine, in Transnistrien und Moldawien sowie in Albanien. Damit war er geografisch und kulturell - wie er im Titel seiner politischen Reiseberichte feststellte - "Mitten in Europa".
Europa beschränkt sich nicht auf die Europäische Union. Das scheint eine selbstverständliche, banale Annahme zu sein, und dennoch wird auf diese wichtige Unterscheidung häufig vergessen. Die EU meldet sich als Europa zu Wort. Eine kritische Position zur EU wird häufig als europakritischer Standpunkt missverstanden.
Hannes Hofbauer tritt gegen die Reduzierung Europas auf die Länder der Europäischen Union ein. Er zeigt, wie europäisch die bei uns als Osten Europas bezeichneten Regionen sind, die geografisch eigentlich die Mitte Europas bilden. Und er zeigt die politischen und vor allem ökonomischen Interessen der EU an europäischen Regionen auf, die Europa mit dem Ziel eines einheitlichen Absatzmarktes homogenisieren.
Die sterbenden Europäer
Der Salzburger Schriftsteller Karl Markus Gauß hat auf seinen Reisen in die europäische Peripherie in den letzten Jahren viele Gespräche geführt. Fünf Völker präsentiert er in seinem Buch "Die sterbenden Europäer": die Sorben, eine slawische Volksgruppe im Osten Deutschlands; die Gottschee, eine deutsche Sprachinsel, die früher im Süden Sloweniens existierte; die Abereshe, Albaner im italienischen Kalabrien; die sephardischen Juden in Sarajewo und die Aromunen.
Die Aromunen sind eines der ältesten Völker Europas, dessen Angehörige heute in mehreren Balkanstaaten leben, die meisten davon in Mazedonien. Viele blicken mit Sentimentalität auf Tito-Jugoslawien zurück, denn damals "war man als Mazedonier noch ein Europäer", beschreibt Karl Markus Gauß ein weit verbreitetes Gefühl.
Wie Europa erscheint, hängt offensichtlich davon ab, von wo aus der Blick darauf geworfen wird: aus der Ferne als Einheit, aus der Nähe als Vielfalt.
Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 30. Jänner 2008, 21:01 Uhr
Buch-Tipp
Karl-Markus Gauß, "Die sterbenden Europäer", Zsolnay.
Karl-Markus Gauß, "Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone", Otto-Müller-Verlag.
Hannes Hofbauer, "Mitten in Europa. Politische Reiseberichte aus Bosnien-Herzegowina, Belarus, der Ukraine, Transnistrien/Moldawien und Albanien", Promedia
Geert Mak, "In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert", aus dem Niederländischen von Andreas Ecke und Gregir Seferens, Siedler Verlag