Erlebte Geschichte im Roman "Das Haus der Lerchen"

Antonia Arslan, Armenierin

Sie war fünf, als ihr Großvater darauf bestand, gemeinsam mit ihr den heiligen Antonio zu besuchen. "Du heißt wie er, und du bist ein Mädchen", sagte er beim Abschied, "daher hast du besondere Pflichten." Welche das waren, erfuhr sie allerdings nie.

Antonia Arslan ist in Padua aufgewachsen, der Stadt, in der man das Grabmal des Heiligen Antonio findet, wenn man die Kirche Il Santo aufsucht. Sie war fünf, als ihr Großvater beschloss, dass dieser regnerisch kühle 13. Juni genau der richtige Tag wäre, ihrem Namenspatron einen Besuch abzustatten. "Heilige lässt man nicht warten", sagte er. Was Antonia dann erlebte, vergaß sie nie: die Zigeuner, die weihrauchgeschwängerte Feier in der Basilika, die Predigt, den Empfang beim Pater Provinzial, und die Worte, die sie ihr Leben lang bewahren sollte: "Es gibt viele Antonios, aber nur wenige Antonias. Du heißt wie er, und du bist ein Mädchen, daher hast du besondere Pflichten."

Familienerinnerungen

Vielleicht waren es diese Worte, die die Erinnerungen ihrer Familie in ihr wach hielten und schließlich das Bedürfnis entstehen ließen, die Geschichte ihrer Familie und ihres Volkes zu erzählen. "Das Haus der Lerchen" erschien 2004 in Italien, eroberte auf Anhieb die Bestsellerlisten und erhielt den italienischen P.E.N.-Club-Preis sowie den Manzoni-Preis. Derzeit wird der Roman von den Taviani-Brüdern verfilmt.

Flucht und neue Identität

Vom weiten Weg aus dem Haus der Lerchen auf dem Hügel über der anatolischen Kleinstadt ist die Rede, von Vorahnungen, von Vorboten der Gewalt und vom Marsch der Tränen. "In meinem Buch gibt es keinen Hass und auch keinen Groll, sondern nur die Absicht, zu erinnern und Zeugnis abzulegen", sagt Antonia Arslan in einem Interview für die italienische Zeitung "L’Unità". "Es sind Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes, es ist die Geschichte meiner Familie." Und sie erzählt, dass ihr Großvater Yerwant Arslanian im Jahr 1924 einen Antrag auf Namensänderung gestellt hat: Er wollte das "-ian" aus seinem Namen streichen lassen, das eindeutig auf seine Herkunft als Armenier deutete.

Die Erde Anatoliens

"Ich habe lange gezögert, dieses Buch zu schreiben", erfahren die Leser der Internetzeitschrift Inchiostrando, "doch ich hatte nicht den Mut dazu. Aber alles wäre mündliche Überlieferung geblieben, wenn ich die ganze Welt meiner Vorfahren, die Farben, die Düfte, die Gerüche und den Geschmack der Erde Anatoliens, nicht wieder entdeckt und fast physisch wieder erlebt hätte, als ich an der Übersetzung des großen Poeten Daniel Varujan arbeitete, der am 24. April 1915 aus seinem Haus in Instanbul verschleppt und einige Monate später auf fürchterliche Weise umgebracht worden war. Ich habe mir endlich ein großes kariertes Heft gekauft und begonnen, das Leben meines Onkels Sempad, des Bruders meines Großvaters aufzuschreiben, immer drei Seiten am Tag, immer auf der rechten Seite des Heftes."

Nüchterner Schreckensbericht

Als würde die Geschichte schon lange darauf gewartet haben, erzählt zu werden, flossen die Seiten aus ihr heraus. "Wie es mir gelungen ist, die ganze Intensität der Tragödie zu vermitteln, weiß ich nicht. Aber ich glaube, mir haben die Berichte der Überlebenden geholfen, nicht in Sentimentalität zu verfallen, die trockene, knappe Nüchternheit ihrer Berichte. Diese Leute beklagen sich nicht: Sie bezeugen mit wenigen Worten unsagbare Schrecken und möchten nur, dass man die Erinnerung daran bewahrt."

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 16. März 2006, 11:40 Uhr

Buch-Tipp
Antonia Arslan, Das Haus der Lerchen, aus dem Italienischen von Maja Pflug, Verlag Page & Turner, ISBN 3442202965

Link
Random House - Das Haus der Lerchen