Befremdendes Gegenwartsdestillat

Die Kinder beruhigte das nicht

Wie ein konzentrierter Fond, dessen Bestandteile aus Wurzeln und Meerestieren nur noch am Geschmack erkannt werden können, da jedes Stückchen eingekocht oder ausgesiebt wurde, ist die Literatur des österreichischen Schriftstellers Alois Hotschnig.

Alois Hotschnig ist Lyriker, Dramatiker und der Autor dichter Prosastücke, die mitunter den Umfang eines Romans annehmen, wie seine letzte Publikation "Ludwigs Zimmer“. Jetzt hat sich der zuletzt mit dem Italo-Svevo-Preis ausgezeichnete Autor auf die kleinere Form der Erzählung beschränkt. Der Band "Die Kinder beruhigte das nicht“ ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. In neun Erzählungen beobachtet Alois Hotschnig Alltägliches und Geheimnisvolles auf subtil reduzierte Weise.

Kunst der Aussparung

Zufällige Umstände werden auf die Spitze getrieben, um ihren verborgenen Sinn herauszuschälen. Wer inhaltliche Motive so sparsam einsetzt wie Alois Hotschnig darf sich sprachlich nicht die geringste Nachlässigkeit erlauben. Und tatsächlich entsteht die Dichte dieser Erzählungen durch eine außerordentlich präzise und disziplinierte Sprachführung, die in ihrer Aussparung konkreter Orte oder geschichtlicher Bezüge an die Prosa Hermann Hesses denken lässt.

Schwebende Gespanntheit

Wir ruderten trotzdem hinaus, schon, weil wir den Neuen mit dabeihatten. Der war ein paar Wochen zuvor an unsere Schule gekommen, und den nahmen wir mit hinaus zu der Stelle, an der wir auch sonst immer angelegt hatten, eine Aussparung im Schilf, eine Lichtung, dort legten wir an, und dort sah ich ihn stehen, seither, wie er dastand im Schilf und uns nachsah und nicht wusste, was wir mit ihm vorhaben könnten.

Eine naturgeschützte Insel, die eigentlich nicht betreten werden dürfte, ist Schauplatz eines Rätsels. Was geschah mit diesem Jungen? Was sucht der Mann, der seit Jahren mit seinem Boot das Schilf abfährt. Und was weiß der Erzähler, der das Licht in seinem Zimmer ausmacht, um zur Insel sehen zu können? Alois Hotschnig versteht es, nicht nur in der Episode "In meinem Zimmer brennt Licht", eine schwebende Spannung aufrecht zu erhalten, in der alle verdächtig sind.

Le Petit Macabre

In seinen neun Beobachtungen schärft Hotschnig den Blick seiner Leser und Leserinnen für die Paradoxien des Alltags - zuweilen weicht er dabei auch auf die symbolisch-mysteriöse Ebene aus.

Karl saß mir gegenüber auf ihrem Schoß und war einmal jünger und älter, das wechselte von Mal zu Mal und war so wenig vorherzusehen wie die Geschichte mit der sie mich konfrontierte.

In der Erzählung "Eine Tür geht dann auf und fällt zu" sitzt der Erzähler Karl sich selbst in Puppenform gegenüber.

Auf dem Weg zu seinem alten Schulfreund begegnet er einer schrulligen Frau, die ihn zu sich ins Haus einlädt. Von ihrer Erscheinung eingenommen, folgt er ihr und findet sich in einer höchst merkwürdigen Situation wieder. Die Frau hat ein ausgeprägtes Faible für Puppen, die sie behandelt, als wären sie Kinder. Sie macht Karl mit einer Puppe bekannt, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist und nicht zufällig seinen Namen trägt. Lange habe Karl, die Puppe, auf den echten Karl gewartet, erzählt ihm die Frau. Wenn sie der Puppe über das Haar streicht, kann das auch der echte Karl spüren. Fasziniert von den eigenartigen Vorkommnissen, kommt Karl häufiger auf Besuch und trifft auf sein Puppenkonterfei in unterschiedlichen Entwicklungsstufen.

Eindringlichkeit der Stille

Die Erzählungen entfalten sich aus Situationen, die sich in beinahe jedem Alltag wieder finden. Etwa, wenn in der Erzählung "Vielleicht diesmal, vielleicht jetzt" die Eltern immer wieder vergeblich auf Onkel Walter warten. Der Abwesende wird durch dieses Warten zur zentralen Figur. Ein Grundgefühl, das jeder und jedem unerwidert Liebenden vertraut ist: Die eindringliche Anwesenheit des Abwesenden.

Die Abwesenden werden registriert und zur Kenntnis genommen, und auch nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der jeweilige zur Tür hereinkommt, um in der wartenden Gruppe aufzugehen und darin zu verschwinden. Das Spiel ist immer dasselbe, wer da ist und wer nicht, wie viele sind wir denn schon, und wer wird denn noch kommen vielleicht und wer nicht.
Die Namen der anderen werden genannt, doch gemeint ist immer nur er. Nach Walter fragt man nicht, darauf hat man sich vor langer Zeit stillschweigend geeinigt.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 19. März 2006, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Alois Hotschnig, "Die Kinder beruhigte das nicht", Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3462036858

Link
Kiepenheuer & Witsch - Die Kinder beruhigte das nicht