Klassische Probleme bei der Bewältigung der Wirklichkeit

Ottokar Königs Glück und Ende

Eliteuniversität. Ortstafelproblem. Bildungsmisere. Haben wir keine größeren Probleme? Nein. Denn alle gesellschaftlichen Probleme haben eine Ursache: die Verhaltensgestörtheit der Führungsschicht. Das kann man schon alles bei den Klassikern nachlesen.

Von Zeit zu Zeit sollte man einen Klassiker zur Hand nehmen, Kleist, Schiller, Grillparzer, was immer sich unter den alten Reclamheftchen aus der Schulzeit daheim noch findet. Seltsamerweise haben diese gelben, schmalen Dinger sämtliche Umzüge und Ausmistaktionen unbeschadet überstanden, als handle es sich dabei um bibliophile Ausgaben.

Nicht nur bei mir ist das so, in nahezu jeder Wohnung, in der ich den Büchern eines Lebens ansichtig werde, entdecke ich die unvermeidliche Reclam-Abteilung. Sauber stehen sie beieinander, die zerbrochenen Krüge, die Räuber, die Nathans und die Herren Könige mit Namen Oidipus. Sie stehen da wie dort, ungeachtet der Lebensläufe ihrer Besitzer. Die mangelnde Vielfalt aber gibt nicht Auskunft über die Menschen, die diese Texte Jahrzehnte lang mit sich schleppen wie chronische Krankheiten, sondern einzig über das österreichische Schulsystem und über die Gesellschaft, die dieses hervorgebracht hat.

Das Lesen von Klassikern war ein Lesenmüssen, keine Lektüre. Es war einer der vielen autoritären Ausflüsse approbierter Vertreter eines Bildungssystems, das zu nichts anderem nütze sein sollte, als paternalistische Machtstrukturen zu zementieren. Es ging nie um die Literatur, sondern einzig darum, die unhinterfragbare Konsumation eines durchaus anzweiflungswürdigen literarischen Kanons zu verordnen. Um des Verordnens willen nämlich. So wie man heute Eliteuniversitäten verordnet. Da geht es nicht um Forschung, sondern um Macht, um penisfixierte politische Eliten, die schon zu wissen meinen, was gut für das Land ist. Nämlich Machterhalt. Das nennt man hier zu Lande Tradition.

Man sollte sich also einen Klassiker zur Hand nehmen, irgendeinen, und nachholen, was man in der Schule unter Würgen und Kotzen in sich hineinstopfen musste, ohne es je verdauen zu können. Man sollte diese Texte lesen als das, was sie sind: kein Bildungsballast, sondern poetische Grundlagenforschung in den Disziplinen Niedertracht und Machtmissbrauch. Ob die Stoffe nun im Mittelalter oder zu Zeiten der Französischen Revolution angesiedelt sind ist ebenso unerheblich wie das Versmaß und mitunter veraltetes Vokabular. Entscheidend ist die Erkenntnis: Politik ist die Verhaltensstörung im Gewand der Normalität. Und mehr noch: dass es nicht darum geht, den Defekt zu beheben, als vielmehr darum, dieses Gewand zur modischen Alltagskleidung zu stilisieren.

Hätte man uns die Klassiker auf dieser Deutungsebene erschlossen, wer weiß, wie die demokratische Kultur in diesem Land heute beschaffen wäre. Vielleicht wäre die Aufklärung bis nach Kärnten durchgedrungen. Nur als Beispiel, weil ich dort zur Schule gegangen bin, aber in Wirklichkeit ist Kärnten überall. Überhaupt wäre die Literatur eine gute Grundlage dafür gewesen, was man in den 1970er Jahren ein kritisches Bewusstsein nannte. Nicht in Kärnten allerdings, da bezeichnete das Adjektiv "kritisch" bloß jenen Punkt, ab welchem es für einen Schispringer gefährlich wird. Und mit "Bewusstsein" meinte man den Zustand, in dem sich einer befand, wenn er ihn nicht gerade im Vollrausch verloren hatte.

Aber statt Literatur hat man uns im Unterricht mit kruden Rassentheorien, Sexismus, Schwulen- und Judenwitzen behelligt. Mit nationalistischem Gezeter, slawischer Hinterlist, Schützengrabenerinnerungen, angeblicher Geschichtsverfälschung, Antikommunismus, Heimatdichtern, Heimatliedern, Heimatmuseen, Heimatverbänden. Ich spreche von den 70er und 80er Jahren. Und ich spreche von Villach. Beinahe hätte man den rechten Arm zum deutschen Gruß erhoben, wenn der Lehrer das Klassenzimmer betrat. Weil das aber auch an Gail und Drau nicht erlaubt war, beschied man sich mit einem markigen "Grrrrüß Gott!" - aus dreißig pubertierenden Leibern in eine Welt gebrüllt, von der wir nicht mehr wussten, als dass sie Kärnten hieß und unsere Heimat war und wo man mit Blut die Grenzen schrieb.

Man sollte einen Klassiker zur Hand nehmen und ihn von Anfang bis Ende gegen die klassische Erziehung zur Idiotie lesen. Mit Glück und Geduld geht einem ein Licht auf, es sei denn, man ist schon längst dort angelangt, wohin einen die Schule auch hinerziehen wollte: im Weltinnenraum der Akklamationsgesellschaft, wo man die Väter liebt und Mütter ehrt, wo über Vaterland und Muttersprache nur mehr ein Gott im Verfassungsrang zu stehen hat, beschützt von rotgesichtigen Landesjägermeistern. Mit Glück und Geduld begreift man aber durch die Lektüre die gesellschaftliche Deformation in ihrer Totalität, die Verformung des Individuums zum konturlos hörigen Endverbraucher von Konsumwaren und Ideologien.

Die Menschen sind einfach gestrickt. Sie erfinden zuerst das Rad, dann das Auto und schließlich das Internet. Sich selbst bleiben sie aber immer treu. Das heißt: Sie lernen nicht dazu. In Wirklichkeit ist seit dem aufrechten Gang nicht mehr viel passiert. Nicht nur in Kärnten nicht. Die Literatur, das muss man zugeben, hat auch nichts Wesentliches zur Besserung der Menschheit beigetragen. Vielleicht kann sie deren ersatzlose Abschaffung einfordern. Christlich-fundamentalistischen Skribenten, die nicht an die Evolution glauben, dafür aber an den göttlichen Designer, wird diese Vorstellung nicht schwer fallen. Ich schlage vor, im Namen des Stadttheaters Klagenfurt ein Stück mit dem Titel "Ottokar Königs Glück und Ende" in Auftrag zu geben. Denn die Apokalypse hat bereits begonnen.