Die Bindungstheorie
Sicher gebunden
Die alte Ansicht der Psychoanalyse, dass manche seelische Störungen auf Probleme in der Kindheit zurückzuführen sind, bekommt neuen Rückenwind. Die Bindungstheorie zeigt, wie frühe Erfahrungen den späteren Umgang mit Gefühlen prägen.
8. April 2017, 21:58
Was Hänschen gelernt hat, wird Hans einmal ähnlich erleben und tun. Auf diesen Nenner lassen sich die Ergebnisse einer Längsschnittstudie der Psychologen Klaus und Karin Grossmann bringen.
Seit über 25 Jahren beobachten die Forscher an einer Gruppe von Eltern und Kindern, wie sich das Bindungsverhalten der Kinder entwickelt. Der Psychologe Klaus Grossmann berichtet, dass die nunmehr 22-Jährigen genau die Tendenzen zeigen, die man im Grunde schon in ihrem Verhalten als einjährige Kinder sah.
Sicher gebunden
Als "sicher gebunden" werden Menschen bezeichnet, die als Kinder gelernt haben, dass sie ihre Gefühle mitteilen können, Gehör finden und die sich beruhigen können, wenn sie zum Beispiel traurig sind.
"Ein Zugang zu den eigenen Gefühlen und die Fähigkeit, sie vertrauten Anderen offen mitzuteilen, in der berechtigten Erwartung, dass der Andere dann mithilft, die Probleme zu bewältigen, das ist etwas, das Eltern, die eine gute sichere Beziehung mit ihren Kindern haben, für ihre Kinder tun", so Grossmann.
Die experimentelle Situation
Auf welche Art und Weise ein Kind sich binden kann, erkunden Forscher in einer experimentellen Situation: Im psychologischen Labor spielen Kinder mit ihrer Mutter: Die Mutter geht hinaus, das Kind spielt mit einer fremden Person, und dann kommt die Mutter nach einer bestimmten Zeit zurück. Beide werden dabei gefilmt.
Die Reaktionen der Kinder fallen unterschiedlich aus, sagt Gottfried Spangler, Entwicklungspsychologe an der Universität Erlangen-Nürnberg. Manche Kinder zeigen deutlich ihren Kummer, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, und sie suchen bei ihrer Rückkehr dann die Nähe und den Kontakt zur Bezugsperson und können sich dadurch auch wieder emotional stabilisieren. Hier geht man von einer sicheren Bindung aus.
Unsicher-vermeidend
Bei anderen Kindern kann man beobachten, dass sie keine oder kaum emotionale Reaktionen zeigen und bei der Rückkehr der Bezugsperson diese dann ignorieren oder vermeiden. In diesem Fall sprechen die Forscher von einer "unsicher-vermeidenden" Bindung, nach der "sicheren Bindung" - dem zweiten Bindungstyp.
Man sieht den Kindern von außen nicht an, ob ihnen die Trennung etwas ausmacht, aber in ihrem Inneren sieht es anders aus. Das konnte Spangler nachweisen, als er bei nur zwölf Monate alten Kindern Maße zu physiologischen Stressreaktionen erhob.
Er untersuchte den Speichel auf Cortisol, ein Stresshormon, und zeichnete die Herzfrequenz der Kinder auf, die die Erregung des Organismus anzeigt.
Als Erwachsene werden "unsicher-vermeidend" gebundene Kinder leicht pseudo-unabhängig: Sie geben sich stark und fühlen sich hilflos. "Sicher gebundene" Kinder dagegen zeigen ihren Kummer, aber sie haben weniger Stresshormone. Bindung schützt also vor Stress.
Unsicher-ambivalente Bindung
Die Bindungsforscher ermittelten noch einen dritten Bindungstyp: die "unsicher-ambivalente Bindung". In diesem Fall weinen die Kinder; sie suchen Nähe und haben dennoch erhöhte Cortisolwerte.
Sie hängen zuweilen an der Mutter, können sich aber nicht beruhigen, denn ihre Mütter verhalten sich widersprüchlich. Einmal wollen sie das Kind ganz bei sich haben, dann weisen sie es zurück. Daher weiß das Kind nicht, wie es die Mutter zu einem bestimmten Verhalten bewegen kann.
Die Folge: Forderndes Weinen und resignierter Rückzug können sich gegenseitig hochschaukeln. Der Typ der "unsicher-ambivalenten Bindung" ist der seltenste, aber häufig unter Menschen mit seelischen Schwierigkeiten anzutreffen.
Nicht nur der Umgang spielt eine Rolle
Welcher Typ von Bindung entsteht, lässt sich nicht nur aus dem frühen Umgang der Mutter/der Eltern mit dem Kind vorhersagen, sondern bereits daraus, wie die Mutter über ihre eigene Kindheit spricht. Darauf weist Inge Bretherton von der University of Wisconsin hin.
Dabei sei nicht entscheidend, was die Mutter selbst erlebt hat, sondern welche Geschichte sie von ihrem Leben in ihrem Kopf entwirft.
Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 14. Februar 2006, 19:05 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Link
Universität Regensburg - Bindungstheorie