Humanwissenschaftliche Theorien

Theorie-Apotheke

In Jochen Hörischs Buch geht es um Ideen und Theorien, die in früherer Zeit das Heil versprachen, und um solche, die heute zumindest noch die Heilung einzelner Probleme versprechen. Nicht selten versteht sich dabei eine Theorie als Heilmittel.

Auf den ersten Blick könnte man den Titel von Jochen Hörischs Buch für einen bloßen Gag halten, aber schon auf den ersten Seiten des Buches macht der Autor deutlich, dass dieser Begriff mit Bedacht gewählt wurde und dass er an eine metaphorische Tradition anknüpft, die von der Antike über Petrarca bis zu Derrida reicht. Es geht dabei um Ideen und Theorien, die heute zumindest noch die Heilung einzelner Probleme versprechen. Nicht selten versteht sich dabei eine Theorie als Heilmittel oder gar Gegengift zu einer anderen; und so manche Theorie hat auch ihr Verfallsdatum schon überschritten.

Die vorliegende Theorie-Apotheke (...) will Grundzüge, Grundgesten und Grundbegriffe derjenigen Theorien vorstellen und prüfen, die in den letzten 50 Jahren das Sagen hatten und zum Widerspruch reizten.

32 Theorien versammelt

Insgesamt 32 Begriffe und Theorien umfasst die Ideen-Apotheke von Jochen Hörisch und zwar alphabetisch gereiht von A wie "Analytische Philosophie" bis Z wie "Zivilisationstheorie", wobei letztgenannte Theorie in angefügten Klammern auch gleich ihren Schöpfer Norbert Elias nennt. Formal sind die 32 Einträge oder Schubladen der Theorie-Apotheke ident aufgebaut: Jede Theorie bzw. ihre Geschichte und Hauptvertreter werden dabei auf im Schnitt vier, fünf Seiten vorgestellt. Es folgen jeweils drei bis vier Seiten die Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen. Die Beschreibung der Wirkungen liest sich etwa bei der "Analytischen Philosophie" so:

Die vorteilhaften Wirkungen der analytischen Philosophie liegen auf der Hand. Sie ist common-sense-orientiert; sie ist, ihrem Begriff alle Ehre machend, analytisch-argumentativ; und so hält sie heilsam kritische Distanz zu allen pseudotiefsinnigen Reden, in denen "die Sprache feiert".

Die Nebenwirkung werden dann u. a. wie folgt beschrieben:

Analytische Philosophie entlastet schlichte Köpfe von der Zumutung, allzu Dunkles und Überkomplexes rezipieren zu müssen - all das gilt fortan als haltloses Geraune von Leuten, die keinen klaren Gedanken fassen können. Die Nebenwirkungen solcher Aufräumarbeiten sind gewaltig. Die Philosophie wird bescheiden, sehr bescheiden: sie verarmt.

Das Schicksal der Universitäten

In einigen Fällen hat Hörisch Aufstieg, Blütezeit und Verfall von Theorien hautnah miterlebt. In diese Kategorie fällt etwa die Kritische Theorie (Frankfurter Schule). In ihrem Niedergang spiegelt sich zugleich auch der generelle Niedergang der großen Theorien und auch der Ansehens- und Bedeutungsverlust ihrer Produktionsstätten, sprich: der Universitäten.

Dass die Universitäten ihre gesellschaftliche Relevanz als Theorieproduzenten verloren haben, sieht Hörisch zum einen als selbstverschuldet, zum anderen aber auch durch äußere Umstände bedingt. Hier nennt er explizit die dramatisch gestiegene Macht der Medien und auch die dramatisch gestiegene Macht der Bilder.

Bilder zu lesen ist kein Exklusivrecht gebildeter bis eingebildeter Kunsthistoriker, sondern etwas, was wir alle immer schon tun - fragt sich nur, mit welchem Alphabetisierungsgrad.

Kritische Distanz

Es ist ein Vergnügen, Hörisch auf seiner intellektuellen Tour de Force durch Theorie-Schulen und Begrifflichkeiten zu folgen und zu lesen, wie hochkomplexe Inhalte von Hörisch philosophisch souverän und mit einer Lust am Formulieren auf jeweils wenige Seiten verdichtet werden.

Auch wenn Hörisch sich den einzelnen Theorien mit kritischer und ironischer Distanz nähert und auch wenn er ihre Defizite schonungslos aufzeigt, so fordert er die Leser doch immer wieder auf, die klassischen Geistes- und Humanwissenschaften nicht gering zu schätzen und zugleich die heutigen Modewissenschaften nicht zu überschätzen, denn:

Mit Informatik, Genetik und Nanotechnologie lässt sich der Knoten, der durch den 11. September 2001 bzw. den 11. März 2004 angezeigt ist, nicht analysieren, geschweige denn auflösen. Wer hingegen in der Lage ist, mit Theorien und Theoremen umzugehen, die langsam als old-fashioned galten (z.B. mit Psychoanalyse, vergleichender Religionswissenschaft und Ethnologie), vermag möglicherweise doch mehr zu beobachten als der nachtheoretische Kopf.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Jochen Hörisch, "Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahren, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen", Eichborn Verlag, ISBN 3821844701