Reporter unterwegs

Meine Reisen mit Herodot

Dieses Buch zeigt, wie sich der junge Reporter Ryszard Kapuscinksi zu einem Meister der Sprachen, des Beobachtens und Beschreibens entwickelt. Außerdem bringt es einem auf sehr unterhaltsame Weise Herodot, den Urvater der Reisesschriftstellerei, nahe.

Mitte der 50er Jahre, kurz nach seinem Studium, arbeitet Ryszard Kapuscinksi als Reporter bei der Zeitung "Jugendfahne". Er ist Anfang 20 und träumt davon, einmal kurzfristig ins Ausland entsandt zu werden, z.B. in die Tschechoslowakei. Eines Tages bat ihn die Chefin zu sich.

Am Ende des Gesprächs, in dem ich erfuhr, dass ich in die Welt hinausfahren sollte, griff Frau Tarlowska in einen Schrank und holte ein Buch heraus. "Das ist von mir für unterwegs." Es war ein dickes Buch mit einem steifen, gelben Leineneinband. Vorn sah ich den mit goldenen Lettern eingestanzten Namen des Autors und den Titel: Herodot.

In den darauf folgenden Jahrzehnten wird Ryszard Kapuscinksi die meisten Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bereisen. Er arbeitet als Zeitungsreporter und veröffentlicht ab Ende der 1980 Jahre zahlreiche Bücher, in denen er seine reichen Erfahrungen festhält. Die Historien des Herodot hat er bei den meisten Reisen in der Tasche. Kapuscinksi erkennt in ihm den ersten Reporter der Weltgeschichte.

Ein 2.500 Jahre alter Reiseführer

Herodot von Halikarnassos lebte von 485 bis 425 vor Christus. In seinen Historien lotet er die Grenzen der damaligen Welt aus. Auf vielen hundert Seiten hält er die Geschichte der Völker fest. Kapuscinksi bleibt zeitlebens fasziniert von dieser unerschöpflichen Quelle an Berichten und Erzählungen. Herodot zeigt die Vielfalt der Welt und ihrer Kulturen. Er will den von sich selbst eingenommenen Griechen begreiflich machen, dass sie vieles von älteren Zivilisationen wie den Ägyptern übernommen haben.

Kapuscinksi schlägt wieder und wieder bei Herodot nach. Er verwendet dessen Beschreibungen und Analysen als Referenzpunkt, um die Konflikte zu begreifen, über die er als Augenzeuge berichtet. Durch seine eigenen Reisen überwindet Kapuscinksi die Provinzialität, nämlich die des Ortes. Sein Reisebegleiter Herodot hilft ihm, die Provinzialität einer anderen Dimension zu überwinden: die Provinzialität der Zeit.

Um mich gegen die Provinzialität der Zeit zu wappnen, tauchte ich ein in die Welt Herodots. Der erfahrene, weise Grieche war mein Führer.

Die Komplexität der Kulturen

Kapuscinksi bindet in seinem neuesten Buch mehrere Stränge zusammen: Den ersten Strang bilden Passagen aus den Historien des Herodot, der zweite Strang Kapuscinksis Reflexionen über Herodot und die Informationen, die er über dessen Herkunft, Motivation und Arbeitsweise zusammenträgt, wodurch er einem die Person Herodots näher bringt. Strang drei schließlich bilden verstreute Erinnerungen aus den Anfangsjahren von Kapuscinksis Journalistentätigkeit, die in keinem seiner Bücher Platz gefunden haben.

Bei seinen ersten Reisen, jenen nach Indien 1955 und zwei Jahre später nach China, kapituliert Kapuscinksi vor der Komplexität der Kulturen, denen er sich gegenüber sieht. Einerseits ist er kaum vorbereitet, andererseits mangelt es ihm noch an Sprachkenntnissen. Er kann damals noch nicht einmal Englisch.

Ich begriff, dass jede Welt ihr eigenes Geheimnis besitzt und dass der Zugang zu diesem nur über die Sprache möglich ist. (...) Mehr noch - ich stellte eine Verbindung fest zwischen Benennen und Existieren, denn nach meiner Rückkehr ins Hotel wurde mir bewusst, dass ich in der Stadt nur das gesehen hatte, was ich benennen konnte, so erinnerte ich mich zum Beispiel an eine Akazie, jedoch kaum an den Baum daneben, dessen Namen ich nicht kannte.

Perlen der Beobachtungs- und Erzählkunst

Für Kapuscinksi-Fans ist das Buch eine echte Bereicherung. Es zeigt, wie sich der junge unerfahrene Reporter zu einem Meister der Sprachen, des Beobachtens und Beschreibens entwickelt, welche Fragen ihn umtreiben, an welche Grenzen er stößt und wie er sie zu überwinden versucht. Außerdem bringt es einem auf sehr unterhaltsame Weise Herodot, den Urvater abendländischer Reisesschriftstellerei, nahe. Und nicht zuletzt finden sich darin einige Perlen Kapuscinskischer Beobachtungs- und Erzählkunst.

Im Kongo konnte man sich davon überzeugen, wie gefährlich eine Freiheit ohne jede Hierarchie und Ordnung sein kann - oder eher eine Anarchie ohne Ethik und Ordnung. In einer solchen Situation gewinnen nämlich auf der Stelle die Kräfte des aggressiven Bösen die Oberhand: Es herrscht jede vorstellbare Niedertracht, Verrohung und Bestialität. Das war auch im Kongo der Fall, und jede Begegnung mit einem Gendarmen konnte zu einem gefährlichen Erlebnis werden.

Da ging ich also eines Tages eine Gasse in der Kleinstadt Lisali entlang.

Sonne, Leere, Stille.

Von der anderen Seite kamen mir zwei Gendarmen entgegen. Ich erstarrte, doch es hatte keinen Sinn, zu fliehen. Die Gendarmen trugen Kampfuniformen und tief sitzende Helme, die die Hälfte ihrer Gesichter verdeckten: Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, jeder hatte eine Maschinenpistole, Handgranaten, ein Messer, eine Panzerfaust, einen Knüppel - das ganze Arsenal, das er schleppen konnte.

Sie kamen immer näher, ich war schweißgebadet, meine Beine waren bleiern, wurden immer schwerer.

Schließlich blieben sie stehen.

Ich blieb ebenfalls stehen. Und dann ertönte aus diesem Berg von Rüstung und Eisenzeug eine Stimme, die ich nie vergessen werde, denn sie klang demütig, ja bittend:

"Monsieur, avez-vous une cigarette, s'il vous plait?" ("Mein Herr, haben Sie eine Zigarette?")

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Ryszard Kapuscinksi, "Meine Reisen mit Herodot", Eichborn Verlag, ISBN 3821845643