Live-Start der Resonanzen in Ö1
Vivaldis Opernpasticcio "Bajazet"
Zum Auftakt der Resonanzen 2006 erklingt Antonio Vivaldis Oper "Bajazet", die Ö1 live überträgt, erstmals in Wien. In diesem Werk führt der "Prete rosso" das Publikum in den Konflikt der Osmanen gegen die Tartaren Anfang des 15. Jahrhunderts.
8. April 2017, 21:58
Als 1735 in Verona Antonio Vivaldis Oper "Bajazet" uraufgeführt wurde, erlebte das venezianische Dramma per musica eine trübe Zeit. Venedig, die Stadt Monteverdis und Cavallis, die über Jahrzehnte als Zentrum der Opernwelt gegolten hatte, war bloß noch ein Schatten ihrer selbst. Die weite Verbreitung der venezianischen Oper über ganz Europa hatte, wie Montesquieu bereits 1728 in seinem Tagebuch notierte, der Serenissima allmählich ihren Symbolstatus genommen.
"Früher", so bemerkte der französische Philosoph, "gab es fast nur Opern in Venedig, und sie waren die schönsten in ganz Europa, während es heute fast überall Opern gibt, und die aus Venedig sind nicht viel besser als die meisten aus den anderen Städten". Der Hauptgrund für diesen Niedergang war allerdings im Süden zu suchen - so wie es Charles de Brosses zehn Jahre später in seinen "Lettres dItalie" verkünden würde, hatte in Wahrheit Neapel als "Hauptstadt der musikalischen Welt" Venedig abgelöst.
Monopol der neapolitanischen Oper
Mit überwältigendem Erfolg hatte in der Tat die neapolitanische Mode, verkörpert durch den Dichter Metastasio, die Komponisten Hasse, Leo und Vinci und vor allem die Kastraten Farinelli, Caffarelli und Carestini, das leichtfertige Venedig überrollt, wo man zu lange die eigenen dramatischen Wahrheiten pflegte und nicht imstande war, seine Modelle dem Lauf der Zeit anzupassen.
Von den 1720er Jahren an hatte der neapolitanische Gesang mit seinen einschmeichelnden Melodien, eingängigen Rhythmen und gefälligen Themen auf das unterlegene Opfer seine zerstörerische Verführung ausgeübt, und zehn Jahre später unterhielt die neapolitanische Oper das absolute Monopol und beherrschte das venezianische Theaterleben völlig (...).
Vivaldi distanziert sich von Venedig ...
Der "Prete rosso", der "rote Priester", hatte sich seinerseits von Venedig distanziert. Während sich seine Heimatstadt von ihren örtlichen Vorbildern abwandte und endgültig darauf verzichtete, ihre künstlerische Identität zu verteidigen, hatte es der Komponist vorgezogen, sich weiter für die Oper zu engagieren, indem er zwischen Lagunenstadt und Terra ferma hin und her pendelte.
Er reiste kreuz und quer durch Norditalien, um seine eigenen und die Werke anderer Komponisten auf die Bühne zu bringen, und kehrte auf seine Hochburg nur zurück, wenn sich eine reizvolle Gelegenheit ergab oder ein Angebot sattsam Vorteile versprach (...).
... und geht nach Verona
Er überließ die venezianischen Bühnen den aus Neapel stammenden Meistern oder Wahlneapolitanern und ging nach Verona, das er seit drei Jahren als einen seiner Zufluchtsorte für Opernaufführungen bevorzugte. Verona, seit der Eröffnung des ersten öffentlichen Opernhauses im Jahre 1651 Hochburg des Theaterlebens in Italien, hatte diesen glänzenden Ruf 1732 mit der Eröffnung eines neuen Saales bekräftigt, der nach Plänen von Bibiena mit hohen Kosten errichtet worden war.
Das imposante Teatro Filarmonico, das wegen seines "Zaubers" und seiner "Pracht" gefeiert wurde, hatte am 6. Jänner desselben Jahres mit der Aufführung von Vivaldis Oper "La fida ninfa" seine Pforten geöffnet. Seit diesem großen Ereignis unterhielt der Komponist fruchtbare Beziehungen zur Accademia, die 1734 zur festen Institution wurde, während Vivaldi zum offiziellen Impresario des Veroneser Theaters avancierte.
"Bajazet", ein symbolisches Werk
In dieser Personalunion als Komponist und Impresario war er mit der Aufgabe betraut, am Teatro Filarmonico die Karnevalssaison 1735 vorzubereiten, und er setzte bei dieser Gelegenheit zwei Werke auf den Spielplan, die stark politisch gefärbt waren: "Adelaide", eine Ode auf die Freiheit Italiens, und die Tragödie "Bajazet", eine symbolische Hymne auf den Widerstand gegen den Aggressor.
Seit der Entstehung des Dramma per musica hatten die venezianischen Librettisten eine ausgeprägte Vorliebe für orientalische Themen an den Tag gelegt. Nachdem Venedig lange Zeit das ruhmreiche Tor in den Orient gewesen war, besaß die Levante für die Lagunenstadt noch immer eine magnetische Anziehungskraft, die im Zuge der Kriege zu einem Spielball des Patriotismus geworden war (...).
"Bajazet" in Form eines Pasticcio
Es muss betont werden, dass das Pasticcio, dessen künstlerische Legitimität heute schwer zu verstehen ist, im Settecento, vor allem bei den großen Komponisten, einen ganz eigenen geistigen Stellenwert beanspruchte. Für Vivaldi waren übrigens seine Pasticci eigenständige Werke, die er "als absichtlich geschrieben" betrachtete, da er sie eigenhändig "bearbeitet und vollendet" hatte.
Nach dem Vorbild von "Dorilla in Tempe" von 1734 oder "Rosmira fedele" von 1738 und im Unterschied zum schlichten Patchwork aus Arien, die gerade Mode waren und durch hastig hingeworfene Rezitative miteinander verbunden wurden, hat Vivaldi seinen "Bajazet" also sorgfältig ausgearbeitet und war offensichtlich darauf bedacht, die zahlreichen Möglichkeiten, die ihm Piovenes Werk bot, ausgiebig zu nutzen und die symbolische Dimension seines Pasticcio aufzuzeigen.
Das Rezitativ - Urform des Dramma per musica
Diese Sorgfalt wird zuallererst in der verblüffenden Reichhaltigkeit der Rezitative deutlich, die Vivaldi alle vollständig selbst geschrieben hat. In einer Szene nach der anderen erinnert hier der Komponist daran, dass das Rezitativ die Urform des Dramma per musica darstellt (...)
Dieses Recitativo secco, das die Handlung vorantreibt und die Beziehungen zwischen den Akteuren des Dramas belebt, bildet für ihn den Grundstock seiner Oper, einschließlich der Pasticci, und in "Bajazet" führt ihn diese Auffassung zu Höhepunkten voller Aussagekraft, wie sie seine Zeitgenossen selten erreicht haben.
CD-Tipp
ORF-Edition Alte Musik, "Resonanzen 2005" (CD 417), erhältlich im ORF-Shop, Ö1 Club-Mitglieder erhalten im ORF-Shop 10 Prozent Ermäßigung.
Hör-Tipps
Antonio Vivaldi, "Bajazet" (Tamerlano), live in Ö1, Samstag, 21. Jänner 2006, 19:30 Uhr
Resonanzen 2006, "Stilbilder & Stilbrüche", Ö1, Dienstag, 24. Jänner 2006, 19:30 Uhr
Konzert am Vormittag, Alte Musik im Konzert, Ö1, Donnerstag, 2. Februar 2006, 10:05 Uhr
Konzert am Vormittag, Alte Musik im Konzert, Ensemble Lucidarium, "Musik für Andersgläubige: Jüdische Musik im Italien der Renaissance", Ö1, Donnerstag, 9. Februar 2006, 10:05 Uhr
Georg Friedrich Händel, "Rodelinda", Ö1, Samstag, 11. Februar 2006, 19:30 Uhr
Veranstaltungs-Tipp
Resonanzen 2006, Wiener Konzerthaus, 21. bis 29. Jänner
Links
Wiener Konzerthaus