Vor und nach der Wende

Völkerball

Maturatreffen sind beliebte Gelegenheiten, Neuigkeiten aus den Leben der ehemaligen Schulkameraden zu erfahren. Anhand solcher Maturatreffen zeigt der tschechische Autor Michal Viewegh die Lebenswege einzelner Schüler, die heute schon um die 40 sind.

Mit Maturatreffen hat jeder so seine Erfahrungen, und sie sind in Prag gar nicht so viel anders als in Wien oder einer anderen österreichischen Stadt. Einen Unterschied gibt es allerdings: Wenn sich in Prag eine ehemalige Maturaklasse trifft, deren Mitglieder heute um die 40 sind, so haben diese eine zweigeteilte Biografie und können die erste Hälfte - die Zeit vor der Wende 1989 - ihren eigenen Kindern nicht mehr vermitteln, und manchmal ist ihnen diese Vergangenheit auch selbst schon exotisch.

Der tschechische Kultautor Michal Viewegh hat diese Generation auf die Bühne seines Romans "Völkerball" gestellt. In einer schnellen Folge von Mikroszenen passieren Schulszenen und Klassenrituale, Momentaufnahmen aus Ehen und Einsamkeiten und eben immer wieder Maturatreffen Revue. Das Personal dieser Szenen: Die schöne Eva und der sportliche Jeff, das einstige Traumpaar, das längst geschieden ist; der versoffene Lehrer Tom, der an der ehemaligen Schule arbeitet und so die Verbindung zur gemeinsamen Vergangenheit aufrecht hält; Skippy, der einstige Klassenkasperl und schwule Frauenarzt; Hujerová, die als Innenarchitektin das Schöne liebt, weil sie sich selbst so hässlich findet; und der Autor selbst als Romanfigur.

Veränderung des sozialen Mikrokosmos'

Die Erfahrung des Älterwerdens - wie aus der ehemaligen Klassenschönheit eine alternde Frau und aus verliebter Faszination eine der vielen gescheiterten Ehen wird - ist für den Autor Michal Viewegh das Thema seines Romans. Liest man ihn aus österreichischer oder deutscher Perspektive, so interessiert darin besonders die Veränderung des sozialen Mikrokosmos' seit der Wende, die in vielen Details aufblitzt, etwa wenn Hujerovás Vater sagt: "Eines muss man den Kommunisten lassen - damals wusste man noch, was Disziplin war."

Heute ist alles viel flexibler. Und das heißt auch: Schnell ist man out, schnell ist man abgeschossen. Wie eben im Völkerball-Spiel, das einst in der Klasse ein Gradmesser war für den körperlichen Marktwert und eine Bühne für Demütigungen und Siege. Was eine Kurzformel für die heutige Gesellschaft sein könnte, sieht Michal Viewegh als Metapher für das Leben überhaupt: Irgendwann wird jeder getroffen.

Manche sterben: Irena, einst die Hässlichste in der Klasse, hat sich vor die Prager Metro geworfen. Hujerová, die sich ebenso wie Irena ihre Lover erfinden musste, um in der Klasse etwas zu gelten, studiert die "unerbittlichen Gesetze der Kneipenkonversation", und wenn sie spät am Abend ein verrauchtes Lokal betritt, weiß sie, "dass aus jeder zweiten Saufnase mein erster Lover werden könnte". Älter geworden, ist sie in Sachen Sex "nach dreißigjähriger autoerotischer Praxis", wie sie konstatiert, ernüchtert.

Leben und Sex gehören zusammen

Erotik und Sex spielen in allen Romanen von Michal Viewegh eine große Rolle. Dabei ist gerade das ein schwieriges Thema, denn schockieren kann man nach Henry Miller, Charles Bukowski oder Vladimir Nabokovs "Lolita" nicht mehr, das weiß Michal Viewegh nur zu gut, und seit Sex in der Trivialliteratur so selbstverständlich ist, ist es für einen Autor schwer, auf diesem Gebiet noch originell und interessant zu sein. Aber Sex ist ein natürlicher Teil des Lebens, und wenn man Geschichten über das Leben schreibt, muss Sex darin vorkommen, ist Michal Viewegh überzeugt.

Dass ihm das gelingt: offen über Sex zu schreiben und nicht in billige Obszönität abzurutschen, ist einer der sympathischen Züge von Michal Vieweghs Romans "Völkerball" und macht ihn immer wieder amüsant. Der skeptische Blick auf das Leben kommt nie mit schwerem Gewicht daher, und da man trotz der multiperspektivischen Szenenfolge leicht den Überblick behält, sind Lesevergnügen und Unterhaltung garantiert.

Michal Viewegh ist ein routinierter Autor und beherrscht die Ökonomie des Erzählens sehr genau, aber Neues hat er nicht riskiert. Es ist immer wieder amüsant, ihn zu lesen, aber einen neuen Blick auf die Welt bekommt man von ihm nicht.

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Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Michal Viewegh, "Völkerball", aus dem Tschechischen übersetzt von Eva Profousová, Deuticke Verlag, ISBN 3552060219