Wolfgang Hildesheimer, die Biografen und das Genie

Die radikalste Mozart-Biografie

Sie gilt bis heute als die vermutlich beste Mozart-Biografie. Mit Sicherheit aber ist es die radikalste. Groß war die Empörung, als Wolfgang Hildesheimers "gewaltige Etüde" 1977 erschien, denn er stellte das Mozart-Bild zunächst vom Kopf auf die Füße.

Begonnen hatte alles mit einem Rundfunkessay. "Dieses Jahr", sprach der Autor mit schon etwas entnervter Stimme, "dieses Jahr feiern wir wieder ein so genanntes Mozartjahr. Das weiß inzwischen selbst der Musikfeind...".

Umgeben von Wunschgebilden

Man schrieb das Jahr 1956, Mozarts 200. Geburtstag. Salzburg jubilierte, Österreich feierte, Reden und Vereinnahmung all überall. Weswegen der damals noch weitgehend unbekannte Grafiker, Maler und Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer von der renommierten Essay-Redaktion des Süddeutschen Rundfunks eingeladen worden war, über Mozart zu schreiben, wusste er später selbst nicht mehr so genau. Wohl hatte er sich Zeit seiner Lebens mit Mozart beschäftigt und schon als Kind seine Klavier- und Violinsonaten zu spielen versucht, ausgewiesener Experte war der 1916 in Hamburg geborene Hildesheimer aber keiner.

Der Schock, so Hildesheimer später, setzte ein als er begann, sich systematisch durch die musikologische Sekundärliteratur und die vorliegenden Mozart-Biografien zu lesen. Was ihm entgegenschlug, war ein Wunschgebilde. Ein göttlich-genialer Jüngling, jemand, der, wie einer der Biografen meinte, nur "Gast" auf dieser Erde war. Mit dem "realen" Mozart, so Hildesheimer, wie er sich aus Dokumenten und unzähligen Briefen erschließt, hatte das alles nichts zu tun. Und er beschloss, das verkitschte und geschönte Mozartbild zurechtzurücken.

Kompromisslos und kitschfrei

21 Jahre sollte es noch dauern, bis aus dem ursprünglichen Radioessay ein Buch wurde. Für viele das Buch. Gnadenlos nüchtern, kompromisslos und garantiert kitschfrei. "Ich bewundere nicht nur die glockenfeste Schönheit ihrer Sprache", schrieb etwa Gottfried von Einem nach Erscheinen an den Verfasser, "sondern auch Ihren Röntgenblick für Menschliches, Ihre Röntgenaugen für Musikalisches. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet."

Die traditionelle Mozartgemeinde fühlte sich freilich keineswegs zu Dank verpflichtet, als Hildesheimers "Mozart" 1977 im Suhrkamp-Verlag erschien. Plötzlich hatte einer einen Keil getrieben zwischen den Menschen Mozart und seine Musik; hatte die Biografen der Schönfärberei bezichtigt und den drolligen Kerl so dargestellt, wie er sich uns aus der Quellenlage erschließt: als einen sozialen Tollpatsch, von dem wir "keine verbürgte geistreiche Erwiderung" kennen; als einen, der die "Menschen nicht kannte", der selten "tief empfand" und dennoch alle menschlichen Empfindungen durch seine Musik zu evozieren wusste.

Bisher, so Hildesheimer, hatten die Biografen den Menschen Mozart 200 Jahre lang reingewaschen, von allem Schmutz und Unrat befreit und mit jener Musik gleichgesetzt, deren Schöpfer er war. Doch das Werk und der Mensch, so Hildesheimers zentrale These, haben nichts miteinander zu tun. "Das Rätsel Mozart", sagt er, "liegt eben darin, dass sich der Mensch als 'Schlüssel' versagt."

Klassiker der Mozartliteratur

Heute, knapp 30 Jahre nach dem Erscheinen des Buches und 15 Jahre nach Hildesheimers Tod - er starb 1991 in der Schweiz - gehört Hildesheimers Werk zu den Klassikern der Mozartliteratur. Der Suhrkamp Verlag meldet mehr als 200.000 verkaufte Exemplare allein der deutschen Ausgabe, dazu kommen Übersetzungen in mehr als ein Dutzend andere, auch außereuropäische, Sprachen.

Schule gemacht, so der Autor, habe sein Buch aber dennoch nicht. Wenn er sich die neue und neueste Mozartliteratur anschaue, so Hildesheimer in einem Interview knapp vor seinem Tod, so "bläst das doch immer wieder in das alte Horn".

Hör-Tipp
Tonspuren, Freitag, 13. Jänner 2006, 22:15 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich runterladen.

Buch-Tipp
Wolfgang Hildesheimer, "Mozart", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518370987

Links
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Mozart 2006 Salzburg
Wiener Mozartjahr 2006
Calling Mozart