13 Vignetten über die Stadt

Der Koloss von New York

Der 35 Jahre alte Colson Whitehead zählt zu den erfolgreichsten und interessantesten jungen amerikanischen Autoren. In seinem dritten Buch stellt er sein ganz persönliches New York vor, kleine Vignetten über die große Stadt.

"Der Koloss von New York" hieß ein Science-Fiction-Film aus den 50er Jahren. Als Kind wusste Colson Whitehead nicht, was er sich unter einem Koloss vorstellen sollte, außer etwas sehr Großes. Deshalb fand er schon allein den Titel diffus einschüchternd und überwältigend. Ein ganz ähnliches Gefühl könne New York vermitteln, sagt der Autor, wenn man es nicht kennt.

Das Buch entstand durch Zufall, nachdem er seinen zweiten Roman, "John Henry Days" abgeschlossen hatte. "Ich war noch kreativ aufgedreht und begann, Vignetten über die Stadt zu schreiben", erzählt Whitehead. "Aber das war kein Buch, kein Roman. Dann kam der 11. September und ich begann, Non-fiction-Texte über die Stadt zu schreiben."

Assoziative Erzählungen

Es wäre irreführend zu sagen, dass der geborene New Yorker seine Stadt in 13 Teilen einfach "beschreibt". So geradlinig geht es nicht zu. Orte wie der Busbahnhof der Port Authority, Coney Island oder der Central Park werden assoziativ, mit oft abrupt wechselnden Erzählern in der ersten, zweiten oder dritten Person präsentiert. "Der Koloss von New York" ist auch eines der wenigen neuen Bücher über die Stadt, das auf die Ereignisse vom 11. September 2001 nicht eingeht. Doch sie schwingen zweifellos mit.

"Was den Angstfaktor in der Stadt allgemein betrifft, fürchten sich natürlich Neuankömmlinge sehr schnell, wenn ihnen der erste Obdachlose in der U-Bahn über den Weg läuft", meint Whitehead. "Doch - vorausgesetzt man ist nicht völlig pleite - ist die Stadt an sich zahnlos. Sie ist weniger ein Feind, als ein Gefährte, der einem nicht ganz behagt."

Derzeit wohnt Colson Whitehead mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in Park Slope, einem Viertel im Stadtteil Brooklyn. In seinen 35 Jahren ist er zwölf Mal übersiedelt. New York sei eine Stadt, die einen für alle anderen Orte verdirbt, schreibt der Autor.

Lieblingsgegend: Broadway

Sportlich sei er nie gewesen, sagt Colson Whitehead. Dafür geht er sehr gerne und lange zu Fuß. Eine seiner Lieblingsstrecken: der sich diagonal durch Manhattan ziehende Broadway.

Such dir dein Ich aus. Werde berühmt und gefeiert. Werde ein moderner Künstler: Such dir eine belebte Kreuzung aus und erkläre sie zu deinem Meisterwerk. Die Kritiker sind begeistert, applaudieren deiner Farbgebung, fragen sich, wie du die Gesichter so hinbekommen hast. Eine Unterströmung von großstädtischer Entfremdung, sagt einer. Wie alle bedeutenden Kunstwerke hatte man sie die ganze Zeit vor der Nase, doch jetzt sieht man sie zum ersten Mal. Wie alle bedeutenden Kunstwerke wird sie dich überdauern.

Als Kind war Colson Whitehead in der Broadway-Gegend auf der Upper West Side zuhause. Das Kapitel "Broadway" ist denn auch das persönlichste in seinem Buch. Mit der Kreuzung, die er gerade beschrieben hat, verbindet ihn etwas: "Beim Schreiben dieser Passage ist dieses merkwürdige Gefühl von Freude und Entdeckerlust wieder aufgestiegen. Ich sehe mich dabei als Kind eine sehr befahrene Kreuzung überqueren. Und diese unauslöschliche Gefühl hat sich über all die Jahre gehalten."

Gefühle von Geborgenheit

New York ist bekannt für seine Aura der Anonymität. Viele machen die Stadt zumindest eine Zeitlang zu ihrer Wahlheimat. Das will jedoch nicht heißen, dass heimatliche Gefühle aufkommen. Man fühlt sich nur weniger fremd als anderswo. Das ist für Colson Whitehead anders. Er verbindet mit New York sehr wohl Gefühle von Geborgenheit:

"Wenn der erste Schnee des Winters in der Nacht fällt, und man ist zufällig der erste, der auf die Straße geht und die ersten Spuren im Schnee macht, das ist, als wäre man der Bürgermeister. Das ist, als gehörte mir hier was. So etwas kommt nur in Momenten. Und nicht jede Woche. Manchmal vergehen Monate dazwischen. Aber es gibt immer wieder diese zufälligen Augenblicke, wo ich mit der Stadt in Beziehung trete, und daher bedeutet sie mir etwas."

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Colson Whitehead, "Der Koloss von New York", aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl, Hanser Verlag, ISBN 3446205926