Wer soll das lesen? - Teil 1
Über den Kanon
Die besten, die beliebtesten, die meistverkauften und die meistgelesenen Bücher finden sich immer wieder auf diversen Listen. Und jedes Mal, wenn wieder einmal der "ultimative" Literatur-Kanon veröffentlicht wird, erkennt man: Nix is fix.
8. April 2017, 21:58
Eigentlich hätte dieser Text mit einer klaren Definition beginnen sollen, nämlich mit der Definition, was denn ein Bücher-Kanon ist. Nur, das herauszufinden ist nicht so einfach, wie es scheint. Schon am Beginn der Recherchen steht eine ganz grundsätzliche Hürde, nämlich jene, dass die Wortkombination Kanon und Buch für viele Menschen schlichtweg unzulässig zu sein scheint.
Die nächste Falle
Hat man einmal akzeptiert, dass es auch bei Büchern einen Kanon gibt, dann kann man schon in die nächste Falle geraten. Und auch diese ist durchaus heimtückisch, denn durch die Definitionsmacht des Lexikons ist die lexikalische Umschreibung des Wortes Kanon genauso beliebig, wie auch nichts sagend. So steht im 4. Band des Brockhaus-Literaturlexikons folgender Satz geschrieben:
Ein Kanon ist eine Liste der als mustergültig angesehenen Autoren und ihrer Werke. Der Begriff bedeutet: Regel, Norm, Richtschnur.
Normen und Regeln
Kritischen Kanon-Forschern drängen sich dabei gleich mehrere Fragen auf: Wer bestimmt, welche Autoren mustergültig sind? Und: Wer bestimmt welche Werke dieses Prädikat denn überhaupt verdienen?
Nächste Frage: Was bedeutet eigentlich Norm, Regel und Richtschnur im Kontext der Literatur? Ja, welche Literatur ist da überhaupt gemeint? Die deutschsprachige, die französische, die nigerianische, oder jene, die in China oder Indien verfasst wird, beziehungsweise wurde? Und welche Normen, Regeln, Richtschnüre gibt es dort?
Fazit: Auch diese Definition ist nicht ganz einfach. Da wir uns aber in Österreich befinden, wollen wir uns auf die nahe liegendste, also auf die in deutscher Sprache erschienene und erscheinende Literatur beschränken.
Konsumartikel Buch
Einer, der ganz sicher Teil des Literatur-Kanons sein muss, ist Harry Potter. Wie sonst wäre es denkbar, dass die Erfinderin des Zauberlehrlings, Joanne K. Rowling, während der Vorweihnachtszeit gleich sechs von 20 Belletristik-Plätzen einer deutschen Wochenzeitschrift mit Selbigem besetzen konnte?
Aber Vorsicht! Bestseller können zwar irgendwann einmal Teil des Kanons werden, müssen es aber nicht. Oder sie werden es, aber nur temporär, und das wiederum liegt an den ökonomischen Gesetzen, die auch vor dem Konsumartikel Buch nicht Halt machen. Sollte also ein Buch jemals Teil des Kanons gewesen sein, dann kann es unter Umständen ein paar Jahre später nicht mehr Teil dieses ominösen Kanons sein, weil es aus unserem kulturellen Gedächtnis verschwunden ist.
Aber wer ist für dieses kulturelle Gedächtnis verantwortlich? Bei mehr als 100.000 Buch-Neuerscheinungen pro Jahr kann auch das beste Gedächtnis Lücken bekommen.
Niemals endgültig
Damit wir uns im Dschungel der Bücher dennoch zurecht finden, gibt es sie: die Bestseller-Listen. Von denen gibt es aber schon so viele, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Vielleicht ist ja auch genau das das Prinzip des Kanons: dass er sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, niemals endgültig definiert werden kann und eben gerade deshalb auch ständig umstritten ist.
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Ex libris, Sonntag, 8. Jänner 2006, 18:15 Uhr
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