Katastrophen und andere Glücksfälle

Der Schwyzer Meinrad Inglin

Der Autor Meinrad Inglin war ein Sesshafter: Die Berge und der Talkessel von Schwyz, sowie deren Bewohner bestimmen seine Geschichten. Idylle sucht man allerdings vergebens. Zu intensiv hat Inglin erfahren müssen, "auf einer dünnen Eisschicht" zu leben.

"Dass alles, auch wenn es noch so schön und lustig war, mit Trauer, Angst und Schrecken ende", davon war der Schwyzer Schriftsteller Meinrad Inglin überzeugt. Die "Erwartung eines immer drohenden Unheils", das "Vorgefühl einer plötzlichen, furchtbaren Wende" und das Wissen, "auf einer dünnen Eisschicht" zu leben, durch die man "plötzlich zur furchtbaren Wahrheit durchbrechen kann", hat er in frühester Jugend gelernt.

Der erste große Schock widerfuhr ihm mit sieben Jahren, als er Augenzeuge des Brandes wird, durch den das Grand Hotel Axenstein am Vierwaldstätter See, das seiner Familie gehört hat, vernichtet wird. Im Jahr 1906 verlor er seinen liebenswürdigen, weltoffenen und kunstsinnigen Vater durch einen Bergunfall. Ein furchtbares Erlebnis für den 13-Jährigen. Damals denkt er zum ersten Mal an Selbstmord.

Unglück im Halley'sches Kometenjahr

Vier Jahre später kommt es so schlimm, dass er das Jahr 1910 in seinen Memoiren als "Katastrophenjahr" bezeichnet. Nun herrschte ohnehin Untergangsstimmung - es war ein Halley'sches Kometenjahr -, daher erschienen gewisse Parallelitäten doppelt schwerwiegend: Am 3. April brennt das Schwyzer Kollegium ab, an dem Inglin studiert, in derselben Nacht stirbt ein ihm nahe stehender Onkel. Am 13. Juni stirbt die schwerkranke Mutter, wenige Stunden später setzt die Muota den Talkessel unter Wasser.

Von Mozart gerettet

Die Verwandtschaft drängt auf eine Berufsausbildung, Meinrad entscheidet sich für das Hotelfach. Er macht seine Sache gut, arbeitet bis zur Erschöpfung und kriegt gute Zeugnisse, aber er weiß, dass das nicht sein Weg ist. "Ich kann mich vorzüglich verwandeln und den Kellner schauspielern, nur darf es nicht zu lange dauern, sonst reklamiert und protestiert ein anderer in mir und quält mich so lange, bis ich es nicht mehr glaube ertragen zu können". Im Sommer 1911 ist es so weit: Er will sich vom Hoteldach stürzen. Doch er zögert zu lange, die Farben des erwachenden Tages und der Klang einer wunderschönen Musik, die Ouvertüre zu "Figaros Hochzeit", wie er später herausfindet, geben ihm neuen Mut.

Damals beschloss er, das Schreiben zu seinem Beruf zu machen. Er traf auf fähige Lehrer, die ihm in jeder Hinsicht weiterhalfen, leistete seinen Militärdienst ab - "Ich will nicht mehr Nationalist sein, sondern Weltbürger. Das Vaterland? Hm, jeje. Aber jeder Mensch ist mein Bruder", notiert er in seinem Tagebuch.

Nach dem Krieg arbeitet er als Redakteur bei der "Zürcher Volkszeitung" und flüchtet zu seiner Tante nach Schwyz. Dort entstehen seine ersten großen Werke. Der 1922 in Stuttgart verlegte kritische Heimatroman "Die Welt in Ingoldau", der in Schwyz einen Skandal entfachte, denn zu viele glaubten, sich wiederzuerkennen. Die Kirche wetterte, die Buchhandlungen boykottierten ihn und die Bauern bewarfen ihn mit Steinen.

Der unbequeme Heimatdichter

In seinem Hauptwerk "Schweizerspiegel" arbeitete er die Schweizer Geschichte der Jahre 1914 bis 1918 auf. Dass er früher schon den Rütli-Schwur-Mythos in einer seiner Geschichten hinterfragt hat, ließ die Abneigung seiner Landsleute nicht wirklich geringer werden. Erst durch die Verleihung des Grossen Schillerpreises 1948 erfährt Meinrad Inglin mehr Beachtung und Achtung: Der Kanton Schwyz gratuliert offiziell und die Universität Zürich verleiht ihm die Ehrendoktorwürde - was bedeutet, dass die ihm im täglichen Umgang zugestandene Anrede "Herr Oberleutnant" durch das adäquatere "Herr Doktor" ersetzt wird.

Eine offizielle Ehrung und der "Kulturpreis der Innerschweiz" zu seinem 60. Geburtstag und schließlich 15 Jahre später die festliche Einweihung des Inglin-Brunnens zeigen, dass "die Schweizer" ihren unbequemen Heimatdichter endlich als einen ihrer Großen akzeptiert haben.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 3. Jänner 2008, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Meinrad Inglin, "Gesammelte Werke. Alle 10 Bände", herausgegeben von Georg Schoeck, Ammann Verlag, ISBN 3250100889

Meinrad Inglin, "Die Lawine. Meinrad Inglins schönste Erzählungen", Ammann Verlag, ISBN 3250103969

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