Verstörende Familiengeschichte

Die Ruhe

Immer öfter machen magyarische Meistererzähler der jüngeren Garde auf sich aufmerksam. Attila Bartis zum Beispiel. Mit seinem 300-Seiten-Roman "Die Ruhe" hat der 37-Jährige eine verstörende Familiengeschichte vorgelegt, einen abgründigen Wenderoman.

Im Zentrum von Attila Bartis' Romans steht eine symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung mit allen Ingredienzien des Perversen. Im Vergleich zu dem, was Bartis da schildert, gleicht etwa das Tableau der Jelinekschen "Klavierspielerin" einem veritablen Familien-Idyll.

Familiäre Hölle

Rebeka Weér, einst eine umjubelte Heroine des Budapester Bühnenlebens, hat ihre Wohnung seit eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr verlassen. Mitte der 1970er, als ihre Tochter sich in den Westen absetzte, war die Schauspielerin mit Auftrittsverbot belegt worden. Damals versuchte die Diva in einem Verzweiflungsakt, ihre Karriere zu retten, indem sie eine gefakete Beerdigung für die Tochter inszenierte. Es half nichts. Die einst euphorisch gefeierte Aktrice blieb von den großen Bühnen des Kadar-Reichs verbannt.

Die Konsquenz: Rebeka verbarrikadiert sich in ihrer mit Requisiten vollgestopften Wohnung. Bis zu ihrem Tod setzt die Schauspielerin ihren Fuß nicht mehr vor die Tür. Das bietet ihr Gelegenheit, ihren Sohn Andor, einen jungen Schriftsteller, der bei ihr lebt, nach allen Regeln der Kunst zu tyrannisieren. Die egozentrische Mama errichtet ein Schreckensmatriarchat, dem sich der hasserfüllte Sohn mit Wollust unterwirft. Mit ihren Zornexzessen, Ängsten und Depressionen macht sie ihm das Leben zur Hölle.

Panorama ungarischer Zeitgeschichte

Ganz nebenbei entwirft Attila Bartis in seinem Roman auch ein Panorama der jüngeren ungarischen Zeitgeschichte, von der Hochzeit des angeblich so gemütlichen Gulasch-Kommunismus, der so gemütlich auch wieder nicht war, bis zu den Wende- und Nachwendejahren der frühen 1990er. Es ist ein graues, trübes, kaputtes Ungarn, in dem sich das Romangeschehen vollzieht. In der Tristesse der menschlichen Beziehungen spiegelt sich die Trostlosigkeit, die Korrumpiertheit des politischen Systems.

Attila Bartis weiß, wovon er erzählt. Als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen geboren, hat er zwei KP-Diktaturen aus der Innen-Perspektive kennen gelernt. "Zunächst habe ich in Siebenbürgen die schlimmsten Jahre der Ceaucescu-Zeit erlebt, dann wurden wir nach Ungarn verbannt, die ganze Familie. Das war 1984, ich war damals 16. 1989 habe ich dann den demokratischen Umsturz in Ungarn miterlebt. Diese Zeit habe ich in sehr, sehr guter Erinnerung. Es war eine große Euphorie damals."

Beste Kritiken

Attila Bartis lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten in Budapest. Er sei, bekennt der Schriftsteller, ein melancholischer, nein, ein depressiver Mensch. Natürlich fühle er sich nicht immer gleich niedergeschlagen, es gebe durchaus Höhen und Tiefen: Er könne sich mehr oder weniger depressiv fühlen, sagt Bartis, depressiv aber sei er immer.

Dabei hat Attila Bartis überhaupt keinen Grund zur Depressivität. Sein Roman ist mit enthusiastischen Kritiken bedacht worden. Andreas Breitenstein lobte "Die Ruhe" in der "Neuen Zürcher Zeitung" als großen Wende-Roman, als "andächtiges Memento mori", als "kalkuliertes Spiel mit dem Entsetzen". Richard Kämmerlings in der "Frankfurter Allgemeinen" wiederum pries die "beeindruckende Sprachkraft" des Buchs, er erklärte Bartis' Roman zu einem "gewaltigen Epitaph auf eine tyrannische, verrückte, unerträgliche Mutter".

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Attila Bartis, "Die Ruhe", aus dem Ungarischen übersetzt von Agnes Relle, Suhrkamp-Verlag, ISBN 3518416820