Prosa aus dem Nachlass

Mikrolithen sinds, Steinchen

Paul Celans wenige Prosatexte sind im Vergleich zu seiner Lyrik "Mikrolithen", also winzige Kristalle, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind. Der Untertitel "Prosa aus dem Nachlass" ist jedoch eigentlich Etikettenschwindel.

Mikrolithen sinds, Steinchen, kaum wahrnehmbar, winzige Einsprenglinge im dichten Tuff deiner Existenz - und nun versuchst du, wortarm und vielleicht schon unwiderruflich zum Schweigen verurteilt, sie zusammenzulesen zu Kristallen? Auf Nachschübe scheinst du zu warten - woher sollen die kommen?

Diese Reflexion Paul Celans findet man in "Mikrolithen sinds; Steinchen. Prosa aus dem Nachlass". Der Prosaeintrag gehört zwar in die Nähe des Gedichts "Mit Mikrolithen", aber er beschreibt auch Celans Versuch, sich verstärkt Prosaarbeiten zu widmen.

Versuche sinds

"Mikrolithen" sind winzigste, mit bloßem Auge nicht erkennbare Kristalle. Das kann man von Celans Gedichten wahrlich nicht behaupten. Es sind leuchtende Sprach-Kristalle, die jeder, der die deutsche Sprache und ihre Literatur schätzt, als solche erkennt. Paul Celan hegte ab den 50er Jahren aber den Wunsch, größere Prosatexte zu verfassen und kündigte dies auch in Briefen an. Allein, das Unternehmen blieb in Ansätzen stecken,

Die im Buch unter der Rubrik "Erzählende Prosa" zusammengefassten Texte, die meist keine zwei Seiten lang sind, zeigen genau, weswegen Celan diese Versuche zu Lebzeiten nicht publiziert hat: Sie sind schlicht von niedriger Qualität, und dies nicht nur im Verhältnis zu seinem reichen lyrischen Oeuvre. Diese Prosatexte können sich nicht entscheiden, ob sie eher einem Realismuskonzept folgen oder doch lieber magisch-surreale Bildwelten gestalten sollen.

Reiche Aphorismen

Anders verhält es sich bei Celans Aphorismen, von denen er sogar einige publizierte. Manche Notate geben Celans eigene geistige Position wieder.

Man riss die Säulen der Weisheit nieder und erbaute den Tempel der Vernunft.

Manche dieser Aphorismen haben einen biblischen Unterton und erinnern an die Aphorismenkunst eines Elias Canetti.

Als das Beten auf Erden verstummte, fuhr Gott aus seinem Schlaf auf.

Viele Aphorismen beschäftigen sich mit Nazi-Deutschland, mit der Rolle der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit und mit Celans Stellung als in Frankreich lebender, aber in deutscher Sprache schreibender Jude.

Deutsch: eine Sprache, die ich nicht vergesse. Eine Sprache, die mich vergisst.

Theoretische Prosa

Für diejenigen Leser, die sich mit der Dichtung Paul Celans näher beschäftigen möchten, ist sicher der Abschnitt "Theoretische Prosa" von hohem Interesse. Was in diesen theoretischen Überlegungen besonders auffällig ist, verblüfft durchaus: Celan beschreibt die Bedingungen zeitgenössischer Lyrik mit Worten, die stark an Martin Heidegger erinnern, etwa wenn Celan Wortneubildungen kreiert.

Gedichte sind Begegnungen, Begegnisse vielleicht.

Sicher, man weiß um das angespannte Verhältnis zwischen Celan und Heidegger. Der Philosoph hat nie öffentlich seine Schuld eingestanden, zeitweilig für den Nationalsozialismus eingetreten zu sein. Doch das Dichtungskonzept Heideggers, wie es sich vor allem in seinen Aufsätzen nach 1945 auftut, und das Celans sind eng verzahnt.

Celan besser kennen lernen

Mit dem Band "Prosa aus dem Nachlass" lässt sich nicht ein Paul Celan als großer, bislang unbekannter Prosaautor entdecken, aber man lernt den Menschen Celan besser kennen. Man lernt begreifen, was es für Celan bedeutet haben muss, in deutscher Sprache kristallklare und metaphernscharfe Gedichte zu schreiben, um so diese Sprache gegen Nazi-Parolen, aber auch gegen das ultrarealistische Schreiben der deutschen Nachkriegsautoren hoch zu halten. Celans Prosa-Mikrolithen erhellen diese Arbeit ganz ohne Zweifel.

Buch-Tipp
Paul Celan, "Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlass", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518417061