Viele Gemeinsamkeiten mit Wien

Barcelona

Dietmar Steiner ist Direktor des Az W. Durch Zufall ist Barcelona seine zweite Heimat geworden. Zumindest einmal pro Jahr ist er dort, benutzt die Stadt "so alltäglich wie Wien", und hat dort wahrscheinlich mehr wirkliche Freunde als in Wien.

Es gibt keine andere Stadt auf der Welt, die Wien so sehr gleicht wie Barcelona. Ist auch nahe liegend. Katalonien ist etwa gleich groß wie Österreich und Barcelona gleich groß wie Wien, und beide Städte sind zu ihrer heutigen Form mit einem Kraftakt im 19. Jahrhundert gewachsen. Für Barcelona hat der Ingenieur Ildefonso Cerda Baublöcke von 133 Metern im Quadrat entworfen, durchschnitten von der exakt West-Ost laufenden Diagonal. Die abgeschrägten Ecken der Blöcke sollten den Kurvenradius der geplanten Straßenbahn erleichtern.

Die Altstadt rund um die Rambla ist touristisches Zentrum. Erst in den nach Norden anschließenden Vierteln der Ensache ist das eigentliche urbane Zentrum der Stadt zu finden. Und an den Hängen des Tibidabo siedeln die Reichen. Nicht nur in Villen. Es gibt auch einen großen Anteil luxuriöser Eigentums-Wohnanlagen. Völlig neu erschlossen in den letzten 15 Jahren wurde die Uferzone. Die Stadt, bis dahin mit dem Rücken zum Meer, hat hier ein völlig neues Freizeitgebiet bekommen.

Weite Wege
Man legt in Barcelona, wie in Wien, ganz anständige Strecken zu Fuß zurück, weil, besser als in Wien, die Erdgeschoßzonen der Baublöcke noch mit einer abwechslungsreichen Vielfalt kleiner Geschäfte gefüllt ist. Dazu gibt es, wie in Wien, ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz. Es gibt keinen Ort der Stadt, an den man nicht mit Metro und Bussen hinkommt.

Besser als in Wien sind die Taxis. Sie sind an den Hauptverkehrsstraßen dauernd unterwegs. Zu jeder Tages- und Nachtzeit winkt man sie einfach am Straßenrand heran. Ein besonders schönes Bild gibt es am Flughafen. Dort gibt es einen gigantischen Taxi-Parkplatz, wo immer rund 200 Autos warten, um rasch und effizient die Ankommenden in die Stadt zu bringen.

Das Leben beginnt am Abend
Der grundsätzliche Unterschied zur mitteleuropäischen Stadtbenutzung ist in Barcelona, aber auch im Rest Spaniens, die unergründliche Nutzung der Nacht. Zum Abendessen zwischen 20:00 und 21:00 Uhr finden sich nur Touristen in den Restaurants. 22:00 Uhr ist die lokal normale Zeit, um Essen zu gehen. Aber um 24:00 Uhr ist auch schon Schluss.

Dann gibt es eine Zeitlücke, von der ich bis heute nicht weiß, wie sie überbrückt wird. Denn die Bars von Barcelona sind erst ab 2:00 Uhr morgens so richtig aktiv. Verkehrsstaus um 3:00 Uhr morgens sind in Barcelona so normal wie um 18:00 Uhr am Wiener Ring. Und die Vorortzüge transportieren um 6:00 Uhr morgens mehr Menschen hinaus aus der Stadt als hinein.

Keine Siesta
Trotzdem beginnen die Geschäfte und Büros gegen 10:00 morgens zu arbeiten. Mittagessen ist zwischen 14:00 und 16:00 Uhr angesagt. Die süd- und zentralspanische Siesta gilt in Barcelona nicht. Mit Terminen muss man vorsichtig sein. Sie können stimmen, sie können sich aber auch um einige Stunden verzögern. Wichtig ist, dass man in allen Fällen einen Kontakt über das Handy hält.

Spanien ist, wie Italien, eine orale Kultur. Schreiben Sie keine E-Mails, schicken Sie keine Verträge. Telefonieren Sie, gehen Sie essen. Bilden Sie ein persönliches Vertrauensverhältnis. Nur das funktioniert. Und die Barcelonesen sind die Genies der letzten Minute. Ein Jahr vor den olympischen Spielen 1992, ein Jahr vor dem Weltkulturforum 2004 gab es jeweils ein totales logistisches Baustellenchaos. Doch ein Jahr später war alles fertig.

Gelassene Modernität
Doch wichtiger noch als alle konkreten Erfahrungen der Benutzung der Stadt, ist deren gefühltes Bild. Die hohe Kultur des urbanen Designs beispielsweise. Sie zeigt sich nicht spektakulär und exaltiert, sondern als eine unaufgeregte, gelassene Modernität, die aber alle Lebensbereiche durchdringt. Die Paradoxie einer Vereinigung von katalanischem Nationalismus und liberalem Bürgertum erzeugt hier eine dynamische soziale und kulturelle Offenheit für das Jetzt und die Zukunft.

Die Stadt hat auch ein entspanntes Verhältnis zu seiner Geschichte. Verdrängt wird nur, wie in ganz Spanien, das Erbe des Franco-Regimes. Aber der zeitgenössische Umgang mit der historischen Substanz der Stadt ist von einem selbstverständlichen Weiterbauen geprägt. Und mit Aufwand und Ernsthaftigkeit werden regelmäßig große Pläne gewälzt und schließlich auch umgesetzt.

Obwohl sich Wien und Barcelona so sehr gleichen. Es bleibt der Unterschied, dass mir die Stimmung Barcelonas immer eine Neugier und Offenheit für die Zukunft vermittelt, wogegen mich Wien immer herunterzieht in eine rückwärtsgewandte Utopie, die in der Vergangenheit die Zukunft sieht.

Text: Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrum Wien

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