Der Weg einer großen Denkerin

Hannah Arendt

Eine gute, profunde Einführung ins Werk Hannah Arendts lag bislang nicht vor. Dieser Mangel ist nun behoben. Kurt Sontheimer, Doyen der deutschen Politikwissenschaft, hat kurz vor seinem Tod im Mai 2005 eine exzellente Einführung fertig gestellt.

Was hat man sie nicht gescholten für ihr Buch über Adolf Eichmann? Wie ist man nicht über sie hergefallen, als sie bereits in den frühen 1950ern zu behaupten wagte, dass Stalinismus und Nationalsozialismus strukturelle Gemeinsamkeiten hätten? Heute hat sich das Bild gewandelt. Hannah Arendt ist in aller Munde. Kaum eine Philosophin wird so oft, so ausgiebig, so zustimmend zitiert wie sie, wobei nach 1989 noch einmal ein kräftiger Rezeptionsschub festzustellen war.

Kompakte Erläuterungen

Auf knapp 260 klar strukturierten Seiten rekapituliert Kurt Sontheimer nun nicht nur Hannah Arendts Vita, er bietet auch kompakte Erläuterungen zu den wesentlichsten Texten der Denkerin, die selbst nicht als "Philosophin" bezeichnet werden wollte, obgleich sie doch zweifelsfrei eine war. Sontheimers Resümee:

Aus der Lektüre der theoretischen Werke Hannah Arendts ergibt sich kein klares, geschweige denn ein einheitliches Bild. (...) Ihr Werk ist nicht aus einem Guss, es gibt Ungereimtheiten und Widersprüche.

Dies allerdings sei eine Stärke, meint Sontheimer. Denn so sehr Hannah Arendts auch in der europäischen Tradition verwurzelt war, so intensiv hat sie immer wieder auch auf Tagesaktualitäten Bezug genommen.

Hannah Arendt, wie ihr großer französischer Kollege Raymond Aron ein 'spectateur engagé', war eine Zeitgenossin, welche die politischen Vorgänge um sie herum aufmerksam verfolgte. (...) Sie konnte ohne die Lektüre von Zeitungen mit den neuesten Nachrichten nicht sein.

Den Ursachen auf den Grund gehen

Die Judenvernichtung der Nazis, die Shoa war das einschneidende Ereignis im Leben Hannah Arendts. In ihrem Totalitarismusbuch hat sie versucht, den Ursachen für das Unbegreifliche auf den Grund zu gehen. Der Totalitarismus, wie er sich in Hitlers Deutschland und in Stalins Sowjetreich etablierte, unterschied sich grundlegend von früheren Formen der Tyrannis, so eine der zentralen Thesen Hannah Arendts. Konstitutiv für den modernen Totalitarismus war, dass er die Massen, wollte er sie bei der Stange halten, in ständiger Bewegung halten musste. Dies geschah durch gelenkte Organisationen, besser aber noch durch Krieg, der die Volksmassen gegen einen gemeinsamen Außenfeind zu mobilisieren im Stande war.

Der stalinistische und der nationalsozialistische Totalitarismus haben dem 20. Jahrhundert zwar ihren Stempel aufgedrückt, sie haben in diesem Säkulum allerdings auch finale Niederlagen erlitten, wie man weiß. Und die Zukunft? Unter Berufung auf Hannah Arendt plädiert Kurt Sontheimer für ein pluralistisches Politikverständnis.

Gegenüber der totalitären Gleichschaltung setzt Hannah Arendt auf ein Verständnis von Politik, das von der Pluralität, das heißt, der Vielheit und Unterschiedlichkeit der Menschen ausgeht und das zwischen ihnen einen Raum schafft, in dem sie in eigener Verantwortung ihr gemeinsames Leben gestalten. Dies ist der Raum der Politik, der Freiheit und Gemeinsamkeit ermöglicht.

Kurt Sontheimer hat solide Arbeit geleistet. Eine bessere Einführung in Hannah Arendts Denk-Kosmos ist derzeit nicht zu haben.

Mehr zu Hannah Arendt in science.ORF.at und oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Kurt Sontheimer, "Hannah Arendt - Der Weg einer großen Denkerin", Piper Verlag, ISBN 3492043828