In Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer

Die versprengten Deutschen

Es ist ein heikles Thema, dessen sich Gauß in seinem neuesten Buch in gewohnter Differenziertheit annimmt, denn die in den letzten Jahren virulent gewordene Vertriebenen-Problematik wird von deutschnationaler Seite für politische Zwecke missbraucht.

Viel zu lange wurde Karl Markus Gauß vorwiegend als Literaturkritiker und Essayist gewürdigt, als einer, der Kompetentes zum Werk anderer Autoren zu sagen hat. Zu wenig beachtet wurde dabei seine besondere Leistung, die künstlichen Grenzen zwischen Reportage, Roman, Reflexion, Aufzeichnung, Reisebuch, Porträt, Polemik und Glosse methodisch zu überschreiten.

Es ist nicht zuletzt der persönliche, die eigene Subjektivität bewusst mitreflektierende Zugang des Autors, der seine Bücher zu einem seltenen Ereignis in der deutschsprachigen Literatur macht. Kein Wunder also, dass auch in diesem Text sein eigener Erfahrungshintergrund mitschwingt, denn seine Familie stammt aus der Batschka. 250 Jahre lang haben die Vorfahren in dieser Gegend gelebt, die heute zum nördlichen Ungarn gehört, bis sie - wie fast alle Donauschwaben - nach 1945 vertrieben wurden.

Wolfskinder in Litauen

Die erste Station seiner Reise war Litauen, wo Gauß die so genannten Wolfskinder besucht hat, Menschen, die vielleicht zehn Jahre alt waren, als ihre Mütter vertrieben oder ermordet wurden. Wochen- oder monatelang mussten sie sich alleine durchschlagen, bis manche von ihnen von litauischen Familien aufgenommen wurden, meistens um den Preis des Identitätsverlusts. Viele von ihnen haben erst mit dem Abstand von Jahrzehnten von ihrer wahren Identität erfahren.

Hier, bei den entwurzelten Wolfskindern, findet Gauß die manchmal kritisch abgemilderte "Heim ins Reich"-Nostalgie am stärksten ausgeprägt. Es könne nicht darum gehen, diese Haltung vom eigenen Reflexionsniveau aus zu bewerten, meint der Autor, er wolle sie vielmehr im historischen Zusammenhang realistisch darstellen.

Die Zipser Deutschen

Etwas anders liegen die Verhältnisse in der Slowakei, wo Gauß bei den Zipser Deutschen vorbeigekommen ist. Seit 800 Jahren haben die Zipser hier gelebt, ihre revanchistischen Gefühle halten sich in Grenzen, ihre zivilisatorische Funktion für die gesamte Region, die von ihrer Fähigkeit als Handwerker und Bergleute profitiert hat, ist überhaupt nicht zu überschätzen. Als sie vertrieben wurden, hinterließen sie schöne, ins Mittelalter zurückgehende Städte. Der damalige tschechoslowakische Staat siedelte dort zwangsweise die Roma an, die das schmucke Ambiente nicht zu schätzen wussten.

"Schuld daran sind aber nicht die Roma", erzählt Gauß, "die waren das Wohnen in solchen Gemeinden nicht gewohnt und haben sehr vieles von alter deutscher Handwerkskunst, die die Holzhäuser verschönt hat, nicht als ihnen angemessen erkannt, und zum Beispiel als Brennholz oder Ähnliches verwendet."

Viel Empathie gefragt

Diese Art von Reisen, sagt Gauß, sind kein Urlaub und keine mechanische Arbeit, sie fordern die Empathie des reisenden Egos, das seine Erfahrungen nach der Rückkehr schreibend verarbeiten, manchmal auch ein wenig aufhellen muss durch die Erinnerung an besonders humane Menschen, besonders berührende Begegnungen. Mit jenem Slowaken zum Beispiel, der ein so exzellentes wie altertümelndes Deutsch sprach, weil er nach dem Krieg von der einzigen Deutschen im Ort, einer Jüdin, die das KZ überlebt hatte, mit Balladen von Schiller sozialisiert wurde. "Manche Klischees haben einen Stachel, der aus der Wirklichkeit emporragt", schreibt der Autor, der es sich auch erlaubt, Fakten zur überzeugenden Fiktion zu verdichten.

Am Schwarzen Meer

Seine letzte, deprimierendste Reise führte Gauß in die Gegend von Odessa. Trostlose Dörfer, geschichtsloses Vakuum, haarsträubende Ungerechtigkeiten auch in der offiziellen Vertriebenenpolitik. Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, weil ihre bei Odessa ansässigen Eltern nach Kasachstan deportiert und russifiziert wurden, haben heute - in die Ukraine zurückgekehrt - keine Chance, bei einem deutschen Konsulat als Rückwanderer akzeptiert zu werden.

Anders liegt der Fall bei Nachkommen jener Deutschen, deren Dörfer zufällig 30 Kilometer weiter westwärts lagen und von der deutschen Wehrmacht okkupiert wurden, bevor man die deutsche Bevölkerung kollektiv nach Zentralasien deportieren konnte. "Die Mitgliedschaft bei der SS ist immer noch ein Beweis für die Deutschstämmigkeit dieses Menschen", so Gauß.

Harte Fakten, die durch nichts beschönigt werden. Trotzdem setzt ihnen Gauß eine kosmopolitische Utopie entgegen, die in der Vergangenheit wurzelt. Einer Vergangenheit, die alles andere als heil war, das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen und Volksgruppen und ihre produktive Vermischung aber doch möglich erscheinen ließ.

Buch-Tipp
Karl Markus Gauß, "Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer", Zsolnay Verlag, ISBN 3552053549