Plädoyer für ein emphatisches Literaturverständnis

Die Erotik des Lesens

Kommt Weihnachten, kommt auch Claudia Bertani, die Frau, die für Mon Chéri die Piemontkirschen in Augenschein nimmt. Das wäre weiter nicht von Bedeutung, ließe sich anhand dieser Frau nicht die Lust am Eintauchen in die Fiktion erörtern.

Jedes Jahr im Herbst kommt Claudia Bertani. Sie kommt so zuverlässig wie Weihnachten, und tatsächlich hat ihr Erscheinen mit der Mutter aller Festtage zu tun, denn Mon Chéri mit der Piemontkirsche wird ausschließlich in jenen Wochen beworben, in denen in den Supermärkten die Regale mit Zimtsternen, Pfeffernüssen und Jupiter-Keksen aufgefüllt werden und über den Einkaufsstraßen dieser Welt sich Hunderttausende Sterne von Bethlehem spannen.

Die kleinen Sandtörtchen, petites madeleines genannt, und der Lindenblütentee bei Proust, und allein der Gedanken an das Ineinanderfließen von aufgelöster Zartbitterschokolade, Kirschlikör und dem Fruchtfleisch der Kirsche in meinem Fall. "Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt", schreibt Proust. "Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallbedingt, sterblich zu fühlen."

Claudia Bertani sorgt dafür, dass ich glücklich bin, wenn andere die Herbstdepression plagt. Sie kauft im italienischen Piemont die hochglanznagellackroten herzförmigen und garantiert wurmfreien Kirschen ein, die das knackige Herz von Mon Chéri ausmachen. So knackig wie Claudia Bertani, die diesen Job schon viele Jahre macht, und dabei seltsamerweise nicht älter wird. Der hingerissene Pralinenesser hingegen schon. Au contraire: Claudia Bertani wird sogar immer jünger, in jedem neu gedrehten Werbespot scheint sie an Jahren abgenommen zu haben, als drehe sich die Uhr im Piemont rückwärts, was aber nicht sein kann, denn ich war schon einmal dort und kann beschwören, dass sich die Zeiger nicht in die verkehrte Richtung bewegen.

Obwohl ich das weiß, möchte ich daran glauben, dass es Claudia Bertani wirklich gibt. Ich weiß, dass in den Werbespots alle paar Jahre die Darstellerinnen ausgetauscht werden und die Kirsche, die ich beim Verzehr eines Mon Chéri zwischen Zunge und Gaumen zerdrücke, aus der Ukraine stammt. Ich habe mich dazu entschlossen, dass die Fiktion Teil meiner Lebenswirklichkeit ist. Ich möchte mich einer Vorstellung ausliefern und ich möchte nicht ständig daran erinnert werden, dass die Wirklichkeit ein soziales Konstrukt ist.

"Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß", heißt es bei Proust. Und weiter: "Was wir Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Verbindung zwischen diesen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben." Und so, wie ich ein Mon Chéri esse, lasse ich mich von einem literarischen Text, also vom abstraktesten aller Kunstwerke, täuschen - oder vielmehr: aus Erinnerungen und Empfindungen eine eigene Wirklichkeit entstehen. Ich dringe durch die dünne Haut einer Blase in eine andere Wirklichkeit ein, in die erfundene Wirklichkeit eines Schriftstellers, und mache sie zu meiner. Ich verleibe sie mir ein, und so kommt es, dass ich in John Updikes fiktivem Brewer alle Straßen und Menschen besser kenne als im tatsächlich existierenden achten Bezirk, wo ich wohne.

Auf keiner Urlaubsreise habe ich so starke Landschaftseindrücke gewinnen können, wie während der Lektüre von Hans Henny Jahnns "Fluß ohne Ufer". Ich war mit Georges Simenon in den dunkelsten Gassen von Paris, mit Isaac Bashevis Singer im Galizischen Schtetl, mit Paul Bowles in Nordafrika, mit Joseph Conrad im Herzen der Finsternis, mit Franz Kafka im Innenraum der Alpträume und mit Imre Kertész im Zentrum des Schreckens. Ich war Augenzeuge von Ereignissen, die ich nie mit eigenen Augen hätte sehen können und wollen. Ich war Ohrenzeuge von Gesprächen und laut gedachten Gedanken, die ich so in der äußeren Wirklichkeit niemals hätte vernehmen können.

Ich bin spät zur Literatur gekommen, habe das Lesen erst in einem Alter entdeckt, in dem viele schon den gesamten Karl May hinter sich gebracht hatten. Ich habe Monate gebraucht, um durch meinen ersten Roman zu kommen, was aber nicht daran lag, dass ich ihn nicht verstanden hätte, sondern daran, dass ich mich als Teil der Handlung fühlte, als stummer Zeuge fiktiver Geschehnisse. Ich konnte den Schnee auf meiner Haut spüren, der in dem Buch vom Himmel fiel, die Feuchtigkeit in den Stiefeln, konnte den Rauch der Zigaretten riechen und den Kaffee in den Baracken. Ich las und las, ungeordnet, niemand hatte mich je angeleitet oder gar zur Lektüre verleitet. Ich sog die in den Büchern festgehaltenen Erfahrungen auf, die so vielfältig waren, dass sie eigentlich in einen einzigen Menschen gar nicht hineinpassen konnten, und ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben wird mir so etwas wie Erziehung zuteil.

Nachdem ich meinen ersten Roman "Die Nacht hinter den Wäldern" veröffentlicht hatte, das ist fünf Jahre her, schrieb eine Kritikerin Folgendes: "Ich hatte eine wache, kluge, am Zeitgeschehen, an Geschichte lebhaft interessierte 'Testleserin', die allerdings gelesene Inhalte stark für sich imaginiert. Sie hatte nicht die Kraft, das Buch bis zu Ende zu lesen. Es war zu stark für sie. Nicht jeder/jede hält eine Geschichte menschlicher Gemeinheit aus, auch wenn sie derart konkret den Leser einhüllt." Über diese kleine Geschichte habe ich mich damals am meisten gefreut, weil größere Nähe zu einer Leserin/einem Leser meinem Verständnis nach gar nicht herstellbar ist.

Bei Ilma Rakusa habe ich kürzlich gelesen, ihr Verhältnis zu einem Text sei erotisch zu verstehen. Der Text sei wie ein Körper, den man streichle und festhalte und mit dem man bei allen Unterschieden den Einklang suche. Das hat was, finde ich. Man soll das Glück festhalten, wenn man seiner ansichtig wird. Die Literatur ist schließlich nicht die schlechteste Lebensgefährtin.

Und Claudia Bertani, das habe ich vorhin vergessen zu erwähnen, prüft nicht nur mit kritischem Blick die Piemontkirschen, wie sie es früher immer getan hat. Jetzt hat sie eher Augen für die körperlich gut ausgestatteten piemontesischen Kirschenpflücker. Claudia Bertani macht auf Kirschenluder, bloß Mon Chéri schmecken genauso wie vor zwanzig Jahren. Das Spiel ist ziemlich durchschaubar, ich weiß, aber ich liebe sie beide.