Drei Autoren, dieselben Erfahrungen
Kurdische Kindheit
Die Gestalten wechseln, die Länder auch. Der Hintergrund bleibt gleich: Gewalt. Die Kurden wollen sich in ihren "Gastländern" behaupten. Sie werden unterdrückt und assimiliert. Und die kurdischen Kinder lernen Gewalt in unterschiedlichster Weise kennen.
8. April 2017, 21:58
Es gibt sehr unterschiedliche Berichte von kurdischen Kindheiten. Allen gemeinsam ist die Gewalt, denen das zerrissene Volk der Kurden ausgesetzt ist. Und es ist erschütternd, wie deformierend sich die Gewalt auf das Seelenleben und die Entwicklung der Kinder, vor allem der Knaben auswirkt - seltsamerweise hat noch keine Kurdin ihre Kindheitserinnerungen aufgeschrieben.
Drei Autoren geben Zeugnis: Salim Barakat aus dem kurdischen Teil Syriens, Nihat Behram, der sich nach dem Willen der türkischen Machthaber "Bergtürke" nennen musste, und Hiner Saleem, der als Sohn des Funkers von General Barzani, dem charismatischen Kurdenführer, im Irak aufgewachsen ist.
Kinder ohne Kindheit
Salim Barakat aus dem syrischen Norden schildert eine extrem gewalttätige Gemeinschaft. "Wir waren Kinder ohne Kindheit", schreibt er. "Die Erwachsenen waren stolz auf unsere Wildheit, sie mochten abgehärtete Kinder." Harte Männer wurden zu Vorbildern der Buben: Sportler, Gauner, Schmuggler, Messerstecher, kriminelle Gewalttäter. Kein Kind verzichtete auf das Messer im Hosenbund, und alle hatten eine Eisenkette als Gürtel. Jeder konnte eine Steinschleuder herstellen und ohne Probleme ein Auto knacken. Ihre Vergnügungen richteten Schaden an: Riesensteine von Dächern rollen, scharfe Gewürze in den Ententeich streuen, dem Blinden den Stock klauen, tiefe Löcher in den Karrenweg graben, mit Stroh tarnen und in einem Versteck darauf warten, dass jemand einbricht.
Diese Erinnerungen schrieb Salim Barakat, der sich hauptsächlich als Lyriker betätigt, im Jahr 1980. "Der eiserne Grashüpfer" ist seine zweite Prosaarbeit. Damals war er knapp 30 und PLO-Kämpfer in Beirut. 1982 ging er nach Zypern, wo er auch heute noch lebt.
Voll Poesie und Trauer
Nihat Behram, geboren 1946 im Osten der Türkei, lebt seit Jahren in Basel und in Paris. "Schwalben des verrückten Lebens" nannte er seinen 1991 vollendeten Roman, in dem er die Kindheit eines kleinen Kurden mit dem Namen Ali erzählt. Ali flattert dem Ich-Erzähler zu wie ein verletzter Vogel, und verschwindet wieder in einem wortlosen Nichts; was zum Anlass wird, dem Leben des Kleinen nachzuspüren. Das wird zur Gelegenheit, von der tagtäglichen Unterdrückung der Militärs gegen jene zu erzählen, die sich nicht zur Wehr setzen können: Alte, Frauen, Kinder.
In manchen Passagen kaum erträglich ob der Ungeheuerlichkeiten und der Brutalität, ist dieses Buch dennoch voll von Poesie und Trauer, ein Denkmal für all die unglücklich vergeudeten Leben im kurdisch-türkischen Hochland.
Brüder im Widerstand
Im Jahr 2004 veröffentlichte der in Paris lebende, 1964 geborene Hiner Saleem seine Erinnerungen. "Das Gewehr meines Vaters. Eine Kindheit in Kurdistan" gibt sich, verglichen mit den beiden anderen, beinahe gemütlich. Sicher, die Familie muss aus dem heimatlichen Städtchen fliehen, um den Ausschreitungen durch die Militärs zu entgehen, aber die Familie ist intakt. Die Mutter singt kurdische Lieder, der Vater rezitiert Gedichte, der Kleine himmelt seine im Widerstand kämpfenden Brüder an, lernt malen, schwimmen, schießen und versteht nicht, weshalb aus dem Fernseher keine Filme in kurdischer Sprache herausflimmern. Dasbrachte ihn zu dem Entschluss, Filmemacher zu werden.
Als solcher gehört er mittlerweile zur Spitze. Von seinen bislang fünf Filmen errang "Wodka Lemon" 2003 auf dem Filmfestival in Venedig den San-Marco-Preis für den besten Film. Sein jüngster Film "Kilometre Zero", der 2005 beim Filmwettbewerb in Cannes lief, war dem offiziellen Frankreich Anlass, ihn zum "Chevalier des Arts et Lettres" zu ernennen.
Buch-Tipps
Hiner Saleem, "Das Gewehr meines Vaters. Eine Kindheit in Kurdistan", Piper Verlag, ISBN 3492243908
Nihat Behram, "Schwalben des verrückten Lebens", Peter Hammer Verlag, ISBN 3872944878
Salim Barakat, "Der eiserne Grashüpfer. Geschichte eines kurdischen Kindes", Lenos Verlag, ISBN 3857872373