50 Jahre danach

Suite francaise

Dass dieser Romanzyklus überhaupt erscheinen konnte, verdankt Irène Némirovsky ihren Töchtern. 50 Jahre nach dem Tod der Autorin entdeckten diese das Romanfragment "Suite francaise", eine Abrechnung mit der französischen Gesellschaft, in einem Koffer.

"Das Schlimmste", bekennt eine der Figuren des Romans "Suite francaise", "Das Schlimmste ist die Heimat. Anderswo werde ich weder geliebt noch gehasst. Das ist einfacher." Das Leiden an der Heimat, die zum Fluchtpunkt für das Anderswo wird, ist ein rekursives Moment in Irène Némirovskys Biografie.

Als russische Jüdin in Frankreich

1903 in Kiew als Tochter einer sehr wohlhabenden russisch-jüdischen Bankiersfamilie geboren, französisch erzogen und in St. Petersburg aufgewachsen, flüchtete Irène Némirovskys Familie nach der Oktoberrevolution nach Frankreich, wo Irène an der Sorbonne Literaturwissenschaft studiert.

1929 wird sie über Nacht mit der Publikation ihres Romans "David Golder" berühmt. Ihr umfangreiches Oeuvre umfasst zehn Romane, drei Kurzromane, eine Reihe von Erzählungen, Publikationen in Zeitschriften und eine Tschechow-Biografie. Sie wird bewundert von Paul Morand, Jean Cocteau, aber auch von der extremen, antisemitischen Rechten. Bis 1940 mit der Kapitulation Frankreichs erneut das Leiden an der Heimat beginnt: Sie wird, um mit Hans Mayer zu sprechen, gleich zu einer doppelten Monstrosität: als Frau und als Jüdin, zumal Jüdin und Russin. Am 13. Juli 1942 wird Irène Némirovsky von französischen Gendarmen verhaftet, wenige Tage später ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und am 17. August 1942 ermordet.

Präzise Sozial- und Gesellschaftskritik

Zuvor noch begann die Arbeit an ihrer "Suite francaise", einem groß angelegten, an der musikalischen Form der Symphonie orientierten Romanprojekt. In ihm entfaltet Némirovsky ein schonungsloses Panorama der französischen Gesellschaft, das weit mehr ist als ein eindrückliches literarisches und historisches Zeugnis, das sich vielmehr durch seine luzide und präzise Sozial- und Gesellschaftskritik auszeichnet, das abseits nationaler Mythen das Bild einer Gesellschaft entwirft, die, von individuellen Ausnahmen abgesehen, unter den Bedingungen von Kapitulation und Okkupation aus purem Opportunismus zur Kollaboration bereit ist; deren etablierte kulturelle Elite angesichts der nationalen und europäischen Katastrophe, unfähig zu politischem und geistigem Widerstand, vollkommen versagte.

Erschreckende Charakterstudien

Im ersten Teil des Romanzyklus', "Sturm im Juni", beschreibt Némirovsky den Exodus aus Paris vor der anrückenden deutschen Wehrmacht in einer straff durchkomponierten, an die Schnitttechnik des Films erinnernden Bilderfolge, die Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten versammelt. Der zweite Teil von "Suite francaise", "Dolce", setzt dieses gesellschaftliche Panorama in der französischen Provinz während der Okkupation unter den Vorzeichen von Kollaboration und Resistance fort. Allerdings nun in einer stärker an individuellen Figuren und psychologisch motivierten Erzählung.

Am erschreckendsten an Némirovskys unmittelbarer Bestandsaufnahme der französischen Gesellschaft ist jedoch, neben der Diagnose allgemeiner Gleichgültigkeit und des Mangels an politischem, aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus motivierten Widerstand, ihre Charakterstudie des Großbürgertums und der ländlichen Aristokratie, die in ihrem vormodernen Gesellschaftsverständnis und ökonomischem Opportunismus von Beginn an die Disposition zur Kollaboration zeigen.

Hymnische Kritiken

In Frankreich riss der Roman "Suite francaise" bei seinem Erscheinen die Kritiker zu hymnischen Vergleichen mit Balzacs "Comédie humaine" hin und er wurde - tatsächlich eine literarische Sensation - postum mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet. Das klingt verdächtig nach schlechtem Gewissen, doch steht in der Tat die Wiederentdeckung einer großen und zu Unrecht vergessenen Autorin an. Auch wenn die späte Anerkennung für Irène Némirovsky selbst zu spät kommt.

Buch-Tipp
Irène Némirovsky, "Suite francaise", aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer, Albrecht Knaus Verlag 2005, ISBN 3813502600