Deutschland in der Zeit der Wende
Neue Leben
Der neue Roman von Ingo Schulze spielt im Jahr 1990, in der Übergangszeit nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands. Durch die Briefform erhält der Roman einen eigenen Reiz und hebt sich unverwechselbar von anderen Büchern zum selben Thema ab.
8. April 2017, 21:58
"Ich selbst würde nie sagen, Ostdeutschland ist so oder so. Deswegen schreibe ich ja auch so ein Buch, dass man mal konkret und genau wird. Der Unterschied ist, ob Menschen von einer Woche auf die andere mit dem Westen konfrontiert wurden, oder ob sie darin groß geworden sind."
Das sagt der aus der DDR stammende Schriftsteller Ingo Schulze. Mit einigen Büchern, allen voran dem episodenhaften Roman "Simple Storys", hat Ingo Schulze sich seine Reputation erschrieben: Er gilt mehr als jeder andere als der Chronist der Wende und des oft konfliktgeladenen Lebens im vereinigten Deutschland.
Zuerst die Lesungen, dann das Buch
Mit seinem aktuellen Roman "Neue Leben" ließ Ingo Schulze sich Zeit, nämlich sieben Jahre. Der Roman über einen Titus Türmer geisterte durch die Blätter und Spalten der Feuilletons, er wurde angekündigt und vorab gelobt oder kritisiert. Der Autor präsentierte Ausschnitte daraus - ganz gegen die heutigen Gepflogenheiten des Literaturbetriebs - bei Lesungen. Erschienen ist das Monumentalwerk nun 2005.
"Ich kann zwar auch über New York schreiben, aber eher darüber, wie sich Ostdeutsche in New York verhalten", so Ingo Schulze im Interview mit der Berliner "taz". "Ich merke, dass ich viel mehr Ostler bin, als ich glaubte. Ich hätte Schwierigkeiten, einen Westdeutschen ordentlich zu beschreiben."
Hoffnungsfrohe, "dynamische" Briefe
Aus dem ursprünglich geplanten Titus Türmer ist im endlich fertig gestellten Roman nun ein Enrico Türmer geworden. Und aus dem Roman selbst ein 800-Seiten-Monster in Briefen.
Der Protagonist Enrico Türmer wird darin als gescheiterter Schriftsteller vorgestellt, der sein Dasein vorerst als Viel-, Eilig- und Schnellschreiber für Zeitungen fristet und sich zuletzt zum Geschäftsführer seines ostdeutschen Zeitschriftenverlags hocharbeitet. Seine meist hoffnungsfrohen, oft übertrieben "dynamischen" Briefe richten sich an eine ferne Geliebte, seine Schwester und an einen Jugendfreund. Enrico erzählt darin meist von seinen Erfolgen, oder jedenfalls davon, was er als Erfolge ansieht.
Lieber Jo! Heute geht's mir besser denn je. Drei Artikel schrieb ich hintereinander weg und hätte weiter gemacht, müsste ich nicht Historie studieren. Den Tag über hatte ich Termine, um zwölf musste ich in Meuselwitz sein, um drei in Lucka. Zwischendurch sammelte ich in den Dörfern Nachrichten für Marions Serviceseite ein und ließ mir von der Wintersdorfer Sekretärin einen Kamillentee kochen.
Kommentare in Fußnoten
Der als Herausgeber fungierende Ingo Schulze gibt in Fußnoten seine Kommentare ab, meist ergeht er sich in bissigen bis sarkastischen Bemerkungen über den mitunter reichlich naiven Romanhelden, dessen Tonfall weniger an einen geruhsam-betulichen "Ossi" erinnert, wie man ihn sich landläufig so vorstellt, sondern vielmehr an einen hektischen "Wessi" samt seiner sprichwörtlichen rastlosen Betriebsamkeit. Ein ironisch-witziger Rollentausch.
Zuletzt die "Wende". Zögernd, mit zitternder Kühnheit schließt sich Enrico den Montagsdemonstrationen gegen das DDR-Regime an. "Stasi raus!" skandiert er mit noch zaghafter Stimme. "Ich gestehe, es war mir etwas peinlich", schreibt er im Brief an seinen Freund, "aber ich war überzeugt, Historisches zu erleben."
Gute Kritiken
Die ersten Reaktionen des Feuilletons auf Ingo Schulzes Roman "Neue Leben" sind als "fulminant" zu bezeichnen. Die "FAZ" etwa greift gar zum Vergleich mit dem wohl über jeden Zweifel erhabenen russischen Erzähler Leo Tolstoi: "Dieser Roman im Tolstoi-Format kann ohne tragfähiges Personal nicht auskommen, und Ingo Schulze liefert es. (...) Beharrlich und mit langem Atem dringt er bei allem Witz in die Tiefe der ostdeutschen Jahre."
Buch-Tipp
Ingo Schulze, "Neue Leben", Berlin Verlag, ISBN 3827000521