Ein Berufsstand und seine Inszenierung
Der Seemann
Timo Heimerdinger, selbst eine ausgewiesene Landratte, wollte es genau wissen. Der Kulturanthropologe spürte dem Phänomen des Seemanns nach und schrieb darüber ein Buch als spannender Bilderbogen zum Thema der Mystifizierung eines Berufsstandes.
8. April 2017, 21:58
"Schon 2 Kilometer hinter dem Deich wissen die Leute nichts mehr über die Seefahrt." Auf diese Formel brachte ein pensionierter Kapitän bei einer Veranstaltung für Schifffahrts-Lotsen seine Erfahrung mit Nicht-Seeleuten. Umso farbiger sind die Bilder, die wir Nicht-Seeleute uns von den Matrosen und ihrem Leben machen: raue See und ferne Länder, Sonnenuntergänge und Akkordeonklänge, und natürlich verruchte Hafenkneipen mit vielen hübschen Mädchen, die nur auf die Ankunft der Seeleute gewartet haben:
Der Seemann erscheint als Frauenheld, der viele hat und jede haben kann. Er ist ungebunden, freiheitsliebend und immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen.
Interviews und Belege
Timo Heimerdinger hat nicht nur viele Belegstellen aus Literatur, Musik, Werbung etc. gesammelt, sondern auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Vertreter der Seemanns-Zunft interviewt. Einige Leitthemen dieser Interviews waren Fragen nach der Motivation, diesen Beruf zu wählen, nach der Auswirkung der Berufswahl auf andere soziale Beziehungen, oder nach der Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen Position.
Wie mir meine Informanten versicherten, ist der Seemannsberuf, ähnlich etwa wie der des Piloten, einer, der andere Menschen zu Nachfragen und Erzählaufforderungen reizt.
Fiktion und Realität
Timo Heimerdinger analysiert in seinem Buch die Wechselwirkung zwischen dem realen und dem fiktiven Matrosenbild. Er erörtert also nicht nur unsere Vorstellungen vom scheinbar romantischen Seemannsleben, sondern auch die Auswirkungen, die diese Bilder wiederum auf die Seeleute haben. Matrosenanzug und Unterarm-Tätowierung, wiegender Seemanns-Schritt und homoerotische Anspielungen gehören, so der Autor, seit jeher auch zum ironischen Selbstdarstellungs-Repertoire der Matrosen.
Der Seemann als Kulturmuster, als komplex verwobenes Gebilde aus Motivik, Bedeutungszuschreibung und Weltreferenz ist untrennbar mit verschiedenen Dimensionen unserer kulturellen Realität verbunden. Die Frage nach dem Beginn der Geschichte gleicht der, was denn zuerst gewesen sei, Henne oder Ei.
Kulturanthropologische Betrachtungen
Das Buch entwirft einen kulturanthropologischen Argumentationskreis von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, wobei die Aspekte des deutschen Matrosenbildes, der Herkunft des Autors entsprechend, im Mittelpunkt stehen. Österreichischen Leserinnen und Lesern mag ein Kapitel über Seemannsromantik in Ländern ohne See fehlen, wie überhaupt Vergleiche zwischen den Seemanns-Images verschiedener Kulturkreise bereichernd gewesen wären. Der Mut zum Blick über den Tellerrand hätte die Bearbeitung eines solchen Themas vielleicht nicht nur "interessant", sondern auch wirklich witzig machen können.
Buch-Tipp
Timo Heimerdinger, "Der Seemann - Ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung 1844-2003", Böhlau Verlag, ISBN 3412212059