Lloyd deMauses Psychohistorie

Das emotionale Leben der Nationen

Lassen sich nicht nur Individuen, sondern auch ganze Nationen auf die Couch legen? Wo Soziologen und Historiker nur äußere Umstände als Triebfedern für geschichtliche Ereignisse sehen, forscht Lloyd deMause nach psychologischen und emotionalen Motiven.

"Psychohistorie" nennt sich der von Lloyd deMause begründete Forschungszweig, den er als Bindeglied zwischen Sozialwissenschaften und Psychologie versteht. DeMause, selbst ausgebildeter Psychoanalytiker und Politikwissenschafter, hat im Rahmen seiner jahrzehntelangen psychohistorischen Forschungsarbeiten auch neuartige Techniken entwickelt, mit deren Hilfe er das emotionale Leben von Nationen und anderen Kollektiven zu erfassen und zu dekodieren versucht.

Dazu analysiert er etwa genau die Ansprachen und Aussagen von Politikern und Staatenlenkern, um versteckte emotionale Botschaften aufzuspüren. Und er bezieht auch Fotos, Filme, Karikaturen und Titelblätter von Zeitungen und Zeitschriften in seine Analysen mit ein, da für ihn an Bildern kollektive Stimmungen besonders anschaulich werden.

Kindheit entscheidet Wahlen

Politik und Geschichte sind für Lloyd deMause nichts anderes als eine Wiederholung und Neuinszenierung von Traumata, die in frühester Kindheit erlitten wurden. Für deMause kommt es dabei zu einem komplexen Wechselspiel zwischen den traumatischen Kindheitserfahrungen der politischen Führungsfiguren und den Gruppenfantasien der Bevölkerung, die ihren Ursprung wiederum in Kindheitstraumata haben und die auch die Wahl ihrer Anführer bestimmen.

"Böse Kinder" werden ausgelöscht

Die Verfolgung und versuchte Ausrottung der Juden beispielsweise sieht deMause als eine Wiederaufführung weit verbreiteter und besonders brutaler Kindeserziehungspraktiken in Deutschland vier Jahrzehnte davor:

Die Juden repräsentierten die Unabhängigkeit jedes deutschen Kindes, verkrüppelte Kinder dessen Hliflosigkeit, Kommunisten sein rebellisches Verhalten, Homosexuelle seine sexuelle Freiheit, Zigeuner sein "sorgenfreies" Leben - jeder Typus von Naziopfer trug einen Charakterzug eines bösen Kindes und musste ausgelöscht werden.

In unterschiedlichen Formen der Kindererziehung sieht deMause auch den Grund, weshalb etwa Japan die Industrialisierung mitgemacht hat und China nicht; weshalb es zwischen den Nord- und Südstaaten der USA im 19. Jahrhundert zum Bürgerkrieg kam; und auch weshalb Slowenien nach dem Zerfall Jugoslawiens eine Demokratie wurde, während in Serbien Milosevic an die Macht kam.

Geschichte der Kindheit

Lloyd deMauses Thesen sind nicht unumstritten, dennoch hat die zentrale These seines Werkes, dass Gewalt in den Familien zu Gewalt in der Gesellschaft führt, in den letzten Jahren durch neue Erkenntnisse im Bereich der Neurobiologie eine wissenschaftliche Fundierung erfahren: Tatsächlich wird das Gehirn von Babys und Kleinkindern durch traumatische Erfahrungen nachhaltig geprägt: So gerät etwa der Noradrenalin- und Serotoninspiegel aus dem Gleichgewicht und es entsteht im späteren Leben der Zwang, diese traumatischen Erfahrungen zu wiederholen.

Allerdings darf man sich das Buch von Lloyd de Mause nicht als sentimentales Plädoyer für eine anti-autoritäre Erziehung vorstellen. Es ist über weite Strecken eine schonungslose und schockierende Darstellung der Geschichte der Kindheit, die bis fast in unsere Gegenwart eine Geschichte des Schreckens ist. Das beginnt mit einer hohen Säuglingssterblichkeit, setzt sich fort mit dem Opfern und Aussetzen von Kindern und reicht bis zu Schlagen, Drill, sexuellem Missbrauch, mangelnder Pflege und emotionaler Vernachlässigung.

Wurzel Mutter-Tochter-Beziehung

Alles entscheidend ist für Lloyd deMause die frühkindliche Mutter-Tochter-Beziehung. Jede Mutter hat es in der Hand, den generationenübergreifenden Teufelskreis der Traumatisierung zu durchbrechen:

Das passiert jedes Mal, wenn die Mutter sich entscheidet, ihr Kind nicht als erotisches Objekt zu verwenden, es nicht so lange verschnürt zu lassen, es nicht zu schlagen, wenn es weint. Es passiert jedes Mal, wenn Eltern den Eroberungsdrang und den Wunsch nach Selbstständigkeit ihres Kindes ermutigen, jedes Mal, wenn sie ihre eigene Verzweiflung und Bedürftigkeit überwinden und ihrem Kind ein wenig mehr Liebe und Empathie zeigen. (...) Jedes Mal, wenn eine Bezugsperson einem Kind ohne Angst aufzuwachsen erlaubt, kann eine Gesellschaft später ohne destruktive Einflüsse aufwachsen.

Der wahre Reichtum der Nationen

Die Weiterentwicklung von Gesellschaften ist für deMause nicht das Resultat von wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt, sondern umgekehrt: Erst Innovation in der Kindeserziehung erzeugt innovative Individuen und damit Fortschritt. In diesem Zusammenhang ist für deMause auch die Rolle des Staates von großer Bedeutung: Er soll die Eltern unterstützen und allgemein viel in die Pflege und Erziehung der Kinder investieren. Hierin liegt für Lloyd deMause der Schlüssel zum wahren Reichtum der Nationen.

Buch-Tipp
Lloyd deMause, "Das emotionale Leben der Nationen", aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Lackner, Drava Verlag, ISBN 3854354541