Tradition und Moderne

Klangbild Istanbul

Die Brückenfunktion Istanbuls zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne spiegelt sich auch im Klangbild der Stadt wider. Es dient vielen Musikerinnen und Musikern als Basis für ihre Kompositionen. Ihre Begegnungen sind dabei unterschiedlich.

Zahlreiche türkische Musikerinnen und Musiker verbindet eine ausgeprägte Vorliebe für Field Recordings und Soundscapes, also für das künstlerische Arbeiten mit den Klängen der Umwelt im Schnittfeld von Experiment, Elektronik und Pop.

Klänge der eigenen Stadt

Einer der erfolgreichsten unter Ihnen ist Erdem Helvacioglu. Er stellte sich die Frage, wie er eine eigene Musik kreieren könnte. Eine Musik, die auf seiner eigenen Kultur beruht, ohne dabei auf Elektronik verzichten zu müssen: "Ich hab also zuerst begonnen, alte Schallplatten mit Aufnahmen aus den 1920er Jahren zu verwenden, dann immer spezifischer dem Klang einzelner Instrumente nachgespürt, um schließlich mehr und mehr nach Art der Field Recordings der Umwelt, der Stadt, dem sozialen Leben zuzuhören, es aufzunehmen, es weiterzuverarbeiten."

Elektronische Klangbilder

Erdem Helvacioglu entwirft wunderbare elektronische Klangbilder von Istanbul, manche sehr direkt, manche hintergründig, manche verfremdet. Neben diesem auf Field Recordings beruhenden Zugang der elektroakustischen Musikszene entwickelt jede Szene ihren eigenen Zugang. Die Komponistinnen und Komponisten aus den Konservatorien halten sich - metaphorische gesprochen - mehr an das Ölbild und malen mehr oder weniger pittoreske Klangbilder mit Titeln wie "In den hintersten Gassen von Istanbul“ für Kammerensemble oder kleine Solistengruppen.

Der nach Istanbul übersiedelte Amerikaner Pieter Snapper, Leiter des universitären Elektronikinstitutes MIAM, fand sich in einem sehr konzeptuellen Ansatz wieder:

"Es begann sehr konkret. Ich lebe in diesem großartigen Viertel hier in Istanbul, gleich gegenüber eines Tales mit einer sehr fundamentalistischen Gemeinde. Wenn man über den Klang des Islam lernt, dann hört man eine Aufnahme eines Muezzins, und hört eben einen singen. Dort aber sind unglaublich viele Moscheen und man hört nie einen alleine, immer mehrere gleichzeitig. Und die sollten zwar auf derselben Tonhöhe singen, aber das tun sie natürlich nie. Und das erzeugt die wunderschönste Heterophonie, also viele singen etwas sehr Ähnliches zur gleichen Zeit, aber aus genau den minimalen Unterschieden entsteht das Entscheidende."

Der abstrakte Klang von 42 Muezzins

Diese Erfahrung hat Peter Snappers Musikdenken extrem verändert, wie er meint, es sei viel heterophoner geworden. Ein diesbezüglich besonders radikales Stück sei ihm sozusagen passiert. Damals arbeitete Snapper gerade als Tonmeister und war dabei, die 42 Kreutzer-Etüden für Solo-Violine zu mastern.

"Irrtümlich startete ich sie alle gleichzeitig und nach einem kurzen Schrecken wusste ich, genau so ist das ein wirklich erstaunliches Stück. Nachdem die Etüden verschieden lang sind, hätte sich sogar eine Art Ausfilterungsprozess dieser Komposition ergeben; von selbst bis eben die letzte solistische Geige ihre Etüde fertig spielt. Es war herrlich, ein herzzerreißendes heterophones Stück, und ich beschloss, okay, du musst es jetzt nur zum Kunstwerk erklären und spielen."

Wahrnehmungsschnittstelle Medien

Emre Erkal ist Mitglied vor Künstlerorganisation Nomad und einer der Initiatoren des Festivals ctrl_alt_del an der Schnittstelle von Architektur und Soundart, das September 2005 zum zweiten Mal in Istanbul stattgefunden hat und vor wenigen Tagen zu Ende gegangen ist.

"Ich glaube was Ort A von Ort B unterscheidet, ist die Art und Weise, wie die Wahrnehmung der Menschen an eben diesem Ort strukturiert und geformt wird." Das Bild, das die Medien von sich selber konstruieren, sei beispielsweise von Ort zu Ort verschieden, "die Beiträge in Fernsehen und Radio sind unterschiedlich gebaut, haben unterschiedliche zeitliche Formate und ich glaube es sind diese ganz einfachen grundlegenden Parameter, die die Wahrnehmung von Generationen prägen."

2/5 BZ

Der Künstler Serhat Köksal spielt in seinem audio-visuellen Projekt 2/5 BZ genau mit diesen medial geprägten Erwartungshaltungen. Als Ausgangsmaterial dienen Köksal zum Großteil Filme aus dem türkischen Fernsehen und Kino der 1970er Jahre, die er im Stil der Street-Art zu neuen Sound- und Videocollagen montiert.

Das Projekt 2/5 BZ funktioniert sowohl im In- als auch im Ausland, das türkische Publikum wird in Köksals Performances an die kulturelle Blütephase vor dem Militärputsch 1980 erinnert, Köksal scheut sich auch nicht davor, in seinen Collagen durchwegs brisantes politisches Material zu verwenden. Und seinem internationalen Publikum hält der Künstler provokant den Slogan No Turistik, No Ekzotik entgegen.

Als er seine ersten Einladungen nach Europa bekommen hat - so Serhat Köksal - musste er nämlich bemerken, dass ihn die Leute dort sehr exotisch fanden, "weil ich eben aus Istanbul komme und mit Istanbul verbindet man im Westen üblicherweise exotische Weltmusik“. Mit seinem Slogan No Turistik, No Egzotik und seit kurzem auch mit dem Slogan No Etnik Market wollte Köksal dieses Klischee brechen.

CD-Tipp
Erdem Helvacioglu, "Met Life", locust music

Vinyl-Tipp
2/5 BZ, "No Turistik, No Egzotik", Gözel Records GZL12’’ 001

Links
2/5 BZ
Festival ctrl_alt_del
MIAM
Erdem Helvacioglu