Leben zwischen Armut und Terror
Krisenzone Südostanatolien
Für die Kurden, die in den armen südöstlichen Regionen der Türkei leben, hat sich das Leben zwischen Armut und bewaffneten Auseinandersetzungen noch immer nicht normalisiert. Hier setzt man nun große Hoffnung in eine Einflussnahme der EU.
8. April 2017, 21:58
Nach den blutigen Kämpfen zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem türkischen Militär in den 1980er- und 1990er Jahren, bei denen insgesamt mehr als 30.000 Menschen getötet und mehrere Millionen vertrieben wurden, wurde 2002 zwar der Ausnahmezustand in der Kurdenregion wieder aufgehoben. Wirklich normalisiert hat sich die Lage aber nicht. Die türkische Regierung hat zaghafte Ansätze zur Demokratisierung unternommen. Aus Angst vor kurdischen Autonomie- oder gar Abspaltungswünschen blieben diese Ansätze aber bis jetzt im Keim stecken - auch eine wirtschaftliche Entwicklung der bitter armen Regionen im Osten und Südosten wurde bisher bewusst hintangehalten.
Aus Frust über den Stillstand hat die militante PKK vor einem Jahr wieder mit ihren bewaffneten Aktionen und Terroranschlägen begonnen - und erschwert damit die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts weiter. Die Lage ist derzeit äußerst gespannt. Doch nur wenn Ankara einen Weg findet, die Kurden gerecht und fair zu behandeln sowie das starke wirtschaftliche West-Ost-Gefälle im Land auszugleichen, wird ein EU-Beitritt der Türkei jemals möglich sein.
Vorstoß der EU
Im Juni des Vorjahrs wurde auf Druck der Europäischen Union erstmals die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen in zwei kurdischen Dialekten und anderen Minderheitensprachen der Türkei erlaubt. Der anfänglichen Erleichterung über diese Maßnahme folgte bald die Ernüchterung. Denn die Verwendung der kurdischen Sprache ist erstens auf 45 Minuten pro Tag beschränkt und zweitens ist sie nur nationalen Fernseh- und Radiokanälen gestattet, die daran kaum Interesse zeigen. Lediglich das staatliche Fernsehen strahlt ein wenig attraktives, um nicht zu sagen, todlangweiliges Programm aus, das wenig Anklang findet. Regionalen Radio- und Fernsehstationen bleiben Sendungen auf Kurdisch verboten.
Forderung nach Gleichstellung
Kurdisch zu sprechen wird von Ankara offenbar noch immer als Angriff auf den türkischen Staat empfunden. Dabei fordern die meisten Kurden mittlerweile keinen eigenen Staat mehr, nicht einmal mehr eine Autonomie, so Radiojournalist Cemal Dogan: "Wenn man sich die Parteiprogramme oder die Forderungen der Demonstranten ansieht, so wird klar: Die meisten Kurden wollen keine Autonomie und auch keinen föderativen Staat, sondern einfach eine Gleichstellung in der Verfassung. Kurden und Türken sollen als konstituierende Völker des türkischen Staats anerkannt werden. Gleichzeitig wären wir natürlich alle türkische Staatsbürger. Kurdische Schulen und kurdische Sendungen wären dann grundlegende Verfassungsrechte."
Jeder Türke ist laut Verfassung zwar gleichberechtigt, aber das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Man kann als Kurde fast jeden Beruf erreichen - auch im türkischen Parlament etwa sitzen viele Kurdinnen und Kurden - aber nur so lange, wie man sich eben als Türke gibt. Wer in der Türkei Kurde sein und das auch leben will, der hat hingegen keine Chance - er oder sie konnte deswegen vor gar nicht all zu langer Zeit sogar im Gefängnis landen.
Langsame Veränderung
Doch langsam tut sich etwas auch in dieser Frage. Die kurdische Sprache wird in der Türkei anerkannt und kann - in beschränktem Ausmaß - auch schon verwendet werden. Wurde früher das Kurdenproblem als reines Terrorproblem dargestellt, so setzt sich nun langsam die Ansicht durch, dass die so genannte Kurdenfrage auch ein soziales und wirtschaftliches Problem ist, dass Ost- und Südostanatolien Regionen sind, die von der Regierung in Ankara bisher sträflich vernachlässigt wurden.
Zum Glücklichsein fehlt den türkischen Kurden sicherlich noch so einiges - doch die EU-Perspektive des Landes und die am 3. Oktober beginnenden Beitrittsverhandlungen geben ihnen große Hoffnung, dass sich ihre Lage in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht doch bessern könnte.
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.
Links
EU - Delegation der EU-Kommission in der Türkei
PKK