Europäische Konferenz über angewandte Supraleitung

Der Walzer der Elektronen

Mit dem Sprichwort "There ain't no free lunch" drücken die bekannt nüchternen Engländer aus, dass in der Natur nichts gratis ist; jeder Gewinn wird mit einem Verlust erkauft. Diese Regel scheint beim physikalischen Phänomen der Supraleitung aufgehoben.

Bei dem physikalischen Phänomen der Supraleitung, manchmal auch als "Walzer der Elektronen" bezeichnet, fließt elektrischer Strom ohne jeden Widerstand. Physikalisch gesagt: Die elektrischen Ladungsteilchen bewegen sich ungedämpft durch den Leiter.

Dieses Phänomen widerspricht nicht nur jeder Alltagserfahrung, sondern scheinbar auch einem Fundamentalgesetz der Physik, dem vom Österreicher Ludwig Boltzmann stammenden "Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik", auch "Entropiesatz" genannt. Ihm zufolge ist jeder energetische Vorgang unvermeidlich mit Verlusten behaftet.

Boltzmanns Entropie

Nach Beispielen muss man nicht lange suchen. Es gibt in der "freien Wildbahn" keine Bewegung, keinen energetischen Vorgang ohne Dämpfung: Wellen verebben, Schallwellen ebenso wie Wasserwellen. Pendel schwingen aus. Eine rollende Kugel kommt zum Stillstand. Körper kühlen ab. Und sogar der nur scheinbar unveränderbare Lauf der Sonnen, Monde und Planeten im leeren All unterliegt der Dämpfung - dank der ausgeübten Gezeitenkräfte. Reibung und Dämpfung begleiten uns, wo immer wir hinsehen, Boltzmanns Entropie ist unbesiegbar.

Bei der Supraleitung scheint dies anders zu sein, und entsprechend gewaltig sind ihre denkbaren Anwendungen. Sie könnte die Energieversorgung der Menschheit tatsächlich "revolutionieren": Ließe sich der Effekt großtechnisch nützen, könnte der weltweite Energiebedarf auf die Hälfte des heutigen Wertes sinken.

Nahe null Kelvin

Es gibt aber einen Haken: Klassische Supraleitung funktioniert nur in der Nähe des absoluten Temperatur-Nullpunkts, der als null Kelvin definiert ist und bei minus 273° Celsius liegt. Er ist - wie etwa die Lichtgeschwindigkeit - energetisch gesehen unendlich weit entfernt: Abkühlung auf 0 K benötigt - theoretisch - unendlich hohen Energieaufwand, und bereits in der Nähe des somit unerreichbaren Punktes steigt der Kühlbedarf exponentiell. Für die technische Anwendung der Supraleitung bedeutet das: Der mögliche Energiegewinn geht für Kühlung wieder verloren, und zwar mehrfach. - "There ain't no free lunch".

Supraleitung wird heute daher nur dort genutzt, wo extreme Energiedichten auf engem Raum benötigt werden und zugleich Geld eine geringere Rolle spielt, etwa in der Medizin - Stichwort: Magnetresonanz-Tomografie -, oder bei jenen Teilchenbeschleunigern, in denen die Physiker den elementaren Bausteinen der Materie ihre Geheimnisse abzulauschen versuchen.

Zukunftsvivion Hochtemperatur-Supraleitung

Angesichts der enormen potenziellen Bedeutung war klar, dass den Entdeckern der so genannten "Hochtemperatur-Supraleitung", dem Schweizer Karl A. Müller und dem Deutschen Johannes Bednorz, im Jahr 1987 umgehend der Physik-Nobelpreis verliehen wurde. "Hochtemperatur" ist hier freilich anders zu verstehen, als im allgemeinen Sprachgebrauch üblich: Es bedeutet 80 oder 90 K, also immer noch minus 200 in Celsius-Graden. Allerdings entgeht man damit dramatisch steigenden Kühlungsaufwand in unmittelbarer Nähe des absoluten Nullpunkts.

Aber: "There ain't no free lunch!" Natürlich gibt's auch da einen Haken: Materialien mit Potenzial zur Hochtemperatur-Supraleitung sind aus speziellen physikalischen Gründen durchwegs keramisch, sind also etwas edlere Varianten jener Werkstoffe, aus denen man sonst Ziegelsteine oder Kaffeetassen herstellt. Und daraus kann man keine elektrischen Kabel machen.

Oder doch? Genau dahin gehen zurzeit die Forschungsanstrengungen, die in allen drei weltweiten Wirtschaftsblöcken - EU, USA, Japan - großzügigst gefördert werden: Wenn es gelingt, die zerbrechlichen irdenen Werkstoffe doch noch in biegsame Form zu bringen, daraus Stromleiter zu produzieren, die man ums Eck legen und vor allem für Motoren und Transformatoren auf Spulen wickeln kann, dann würde der erhoffte "free lunch" vielleicht doch noch stattfinden. Dem, der dabei die Nase vorn hat, winkt sehr viel Geld.