Die Bedeutung des Politischen
Ulrich Beck im Gespräch
"Alle sagen, es gebe zur jeweiligen Politik keine Alternative, man sei gezwungen, diese und jene Reformen zu machen. Das ist doch Unfug! Das ist die Bankrotterklärung der Politik. Es gibt immer Alternativen", meint Ulrich Beck vor den Bundestagswahlen.
8. April 2017, 21:58
Michael Kerbler: Herr Professor Beck, wer wird denn die deutschen Bundestagswahlen am kommenden Wochenende gewinnen?
Ulrich Beck: Das ist eine interessante Frage! Ich glaube, die Wahl wird spannender, als es im Augenblick erscheint. Bisher ist eine Option nicht richtig sichtbar geworden. Ich glaube nicht, dass Rot-Grün nochmal gewinnt, das ist zu unwahrscheinlich geworden. Wenn allerdings die Situation eintritt, die jetzt absehbar ist, dass auch Schwarz-Gelb keine Mehrheit bekommt - also CDU-CSU und FDP -, dann bleiben nicht nur die Option der Großen Koalititon, die bisher diskutiert wurde, oder die Alternative, eine Rot-Rot-Grün-Koalition zu bilden, von der ich glaube, dass sie im Augenblick auch nicht so opportun ist, sondern es bleibt eine Alternative, die bisher noch gar nicht richtig diskutiert wurde, nämlich Rot-Grün-Gelb. Eine SPD-Grüne-FDP-Koalition. Und das wäre möglicherweise eine Chance für Schröder, obwohl er nicht die Wahlen gewinnt, noch Kanzler zu bleiben.
Es ist ja so, dass - wenn tatsächlich die FDP keine Chance hat, an die Regierung zu kommen, wird man angesichts der Tatsache, dass sie ja nun doch schon sehr lange aus der Regierungsverantwortung ist, ein großes Drängen verspüren. Und ich könnte mir vorstellen, dass Herr Westerwelle, der jetzt im Moment noch nicht sehr gut mit Herrn Fischer zusammen arbeiten kann und umgekehrt, Herr Schröder auch Herrn Westerwelle nicht sehr schätzt, unter diesen Bedingungen doch eine neue Verbindung herstellen können, um eine Rot-Grün-Politik in einer kleinen Variante fortzusetzen.
Es gab Kritik an dieser Fernsehkonfrontation zwischen Angela Merkel und Herrn Schröder - die ja so eine Konfrontation auch wieder nicht war. Es ist von einer Amerikanisierung des deutschen Wahlkampfs gesprochen worden. Ich habe mich nachher gefragt: Wo sind die Differenzen?
Ja, es geht mir genau so. Ich finde, man kann sogar Paradoxien feststellen. Je näher sich die Parteien rücken in ihrer Programmatik, desto stärker werden die Differenzen betont, die dann gar nicht so stark nachvollziehbar sind.
Es war ja auch eine Diskussion, die sehr um Einzelheiten kreiste, um Details. Während große Fragen fehlten wie "Ist überhaupt die Zielsetzung der Vollbeschäftigungsgesellschaft noch sinnvoll?" oder "Was heißt unter den Bedingungen zunehmender Europäisierung und Globalisierung soziale Gerechtigkeit?" und so weiter. Viele dieser Fragen, die latent ja auch im Wahlkampf präsent sind, tauchten in dieser Diskussion gar nicht auf, so dass man eigentlich nicht erkennen konnte, ob da noch andere programmatische Profile dahinter stehen. Ich hab sowieso den Eindruck, dass der Konsens in Deutschland sehr viel größer ist als der Dissenz.
Im Grunde genommen gibt es drei Grundannahmen, die bei uns in der politischen Diskussion überhaupt nicht in Frage gestellt werden: Das erste: Inwieweit ist das Ziel der Vollbeschäftigung überhaupt noch realistisch? Das zweite: Ob man Vollbeschäftigung unter den Bedingungen des nationalen Staates, der nationalen Politik verwirklichen muss. Und drittens: Dass es eigentlich nur darauf ankommt, die neoliberale Medizin noch zu erhöhen, damit alle Probleme gelöst werden. Wachstum, Wachstum, Wachstum. Die Hebel entsprechend stellen, und Deutschland wird wieder das, was es einmal war. Ich finde, alle drei Prämissen sind fragwürdig.