Reform der Reform willen?

Die Reform-Generation

"Wir leben in einem Zeitalter der andauernden Reformen", meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann: "In vielen Bereichen gilt: Ist eine Reform abgeschlossen, beginnt die nächste". Einer der Gründe: die "Reformindustrie", die von der ständigen Veränderung lebt.

Expertenmeinungen über die heutige Reformmanie

Wie viel Veränderung braucht der Mensch, und wie viel verträgt er? Diese Fragen werden im Zusammenhang mit dem meist gebrauchten Wort in Politik und Wirtschaft nie gestellt - der Reform - ein Begriff, der uns gerade jetzt in Wahlkampfzeiten an allen Ecken und Enden verfolgt.

Reformen omnipräsent

Es gibt - egal ob ganz Rechts in der Mitte oder Links - keine politische Gruppierung, die uns nicht die Notwendigkeit von umfassenden Reformen predigt: Der deutsche Wahlkampf sei eine "Abstimmung über seine Reformpolitik“, sagt beispielsweise Bundeskanzler Schröder. Der japanische Ministerpräsident hat auf diese Weise erst kürzlich die Parlamentswahlen gewonnen, und auch in Österreich steht die "grundsätzliche Reform“ von so ziemlich allen Belangen des öffentlichen Lebens im Mittelpunkt der Wahlkämpfe und Parteiprogramme.

Es scheint fast so, als dass es nichts mehr gibt, das gut funktioniert, das man so lassen kann, wie es ist. Unternehmensberater schlagen überhaupt vor, in Betrieben so etwas wie eine permanente Reform einzurichten. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist der Stillstand! Aber ist er das wirklich?

Die "Reform der Reform"

Das Wort Reform hat sich in den vergangenen Jahrzehnten selbst einer Art Reform unterzogen. Noch in den 1960er Jahren waren die Reformer die Bremser - jene Kräfte, die das System lieber von innen her verändert hätten, die für langsame Veränderung eingetreten sind. Die Revolutionäre waren hingegen jene, die alles in Frage gestellt haben.

Erst Ende der 1970er Jahre sei eine Veränderung eingetreten, sagt die Leiterin des Instituts für Politikwissenschaften der Universität Wien, Sieglinde Rosenberger. Damals habe der Begriff als solcher noch positive Bedeutung gehabt: Reformen, die zum allgemeinen Wohlstand geführt haben, wie etwa die Gleichstellung der Frauen in vielen Lebensbereichen oder das Entstauben der Republik in der Ära Kreisky. Daher sei es auch heute noch zu erklären, dass nach wie vor ein großer Teil der Bevölkerung für Reformen eintrete, auch dann, wenn er selbst zu den Verlierern dieser Reformen zähle, so Rosenberger.

Looser und Winner

Als Beispiel für viele solcher Verlierer beklagt etwa ein Postangestellter, dass sich durch die Reform in der Post sein Arbeitsplatz quasi aufgelöst hat. Und er erzählt von dem großen Loch, in das er gefallen ist und seither nicht mehr herausfindet - schlimmer noch! Dieser Mann arbeitet sogar noch bei der Post; allerdings sieht er keinen Sinn mehr in dem, was er tut und sieht sich zudem noch mit vielen Anfeindungen konfrontiert.

Interessanterweise gilt aber just die Reform innerhalb der Post als geradezu vorbildhaft. So zumindest die Ansicht von Österreich-Chef Manfred Reichl von "Roland Berger Strategy Consultants", einem jener Unternehmensberater, die in Reformen auch den Bewegungsmotor für ihren eigenen Job sehen.

Surfen auf einer Welle

Martin Bredl, Unternehmenssprecher der Telekom Austria - einem Unternehmen, das einem ständigen Wandel ausgesetzt ist - beschreibt die ständig schneller werdenden Veränderungen als "Surfen auf einer Welle": "Hat man die eine erwischt, kommt bereits die nächste von hinten“.

Was passiert aber mit jenen, die sich diesem "heiligen Experiment Reform“ verweigern, die in der Reform keinen Motor, sondern eine Blockade ihrer Produktivität sehen? Was geschieht mit jenen, die sich von all dem Reformwillen rundherum in ihrer Sicherheit bedroht fühlen?

Die schwere Last der Verweigerer

Wenn man in seiner höchstpersönlichen Existenz bedroht wird, kann das zu gesundheitlichen Problemen führen, diagnostiziert Kurt Leodolter, Arbeitsmediziner in Graz: "Wenn Strukturen zerstört werden, erzeugt man damit Ungewissheit. Diese führt zu Stress, und da es sich nicht um so genannten positiven Stress handelt, führt dieser auch zu körperlichen Auswirkungen“, so Leodolter.

Nach den Worten des Mediziners äußert sich diese Art von Unsicherheit am häufigsten in Rückenproblemen. Denn die Last zu tragen, sich mit einer doch so wichtigen Veränderung nicht wohl zu fühlen und geradezu Angst zu haben, dass sich Strukturen auflösen, wo dies doch gerade so gut für mehr Produktivität sein sollte, beschwere die Schultern vieler Arbeitnehmer. Die Last des Verweigerers sei eben schwer zu tragen.

Keine Reform-Grenzen?

Wo aber zieht man die Grenze zwischen jenen, die sich dem Reformwahn ungebremst hingeben und jenen, die Dinge entwickeln und allein deshalb verändern wollen? Immerhin würden wir wohl heute noch in Höhlen sitzen und frieren, wenn sich nicht die findigen Reformer von damals überlegt hätten, dass das Feuer, die Beackerung des Bodens und demnach auch der Wechsel vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit eine positive Entwicklung nach sich ziehen würden?

Fest steht jedenfalls, dass sich der Terminus "Reform" von einer tiefgehenden Veränderung hin zu einer modischen Umschreibung für scheinbar bessere Lösungsansätze gewandelt hat. Das permanente Reformerlebnis spiegelt sich z. B. in der Regierungserklärung vor fünf Jahren wider: Hat sich im Jahr 1996 das Wort Reform drei Mal in der Regierungserklärung gefunden, so war dies im Jahr 2000 schon 68 Mal der Fall ...

Reformismus als Ideologieersatz

"Wer heute Zweifel an Reformen hege, der werde sofort als Bremser und Betonierer abgestempelt. Hat früher ein klarer Zusammenhang zwischen einer Reform und einem bestimmten gesellschaftlichen Konzept bestanden, ist dieser heute nur mehr subkutan vorhanden", sagt der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann. Er ortet einen Bedeutungswandel im Begriff "Reform" und spricht vom "Reformismus als Ideologieersatz“. Nachdem es keine erkennbaren Unterschiede mehr in der ideologischen Ausrichtung der großen Volksparteien gäbe, sei die neue Ideologie die "Reform der Reform willen“, urteilt er.

Allerdings - und da sind sich der Philosoph Liessmann und die Politikwissenschaftlerin Rosenberger einig: Die Zukunft werde eine Trendwende bringen: wieder mehr ideologische Ausrichtung und Auseinandersetzung und nicht das Schlagwort Reform als Inhaltsersatz.

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Buch-Tipp
Paul Nolte, "Generation Reform", Verlag Beck, ISBN 3406510892

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Verlag C. H. Beck - Nähere Buchinfos
Konrad Paul Liessmann