Burschen als Risikogruppe
Problemfeld Schule
Leseschwächen, Gewaltbereitschaft, Schulabbruch: Es sind vor allem männliche Jugendliche, die damit ein Problem haben. Liegt es auch an den Schulen, dass junge Menschen nicht ausreichend auf das Leben vorbereitet werden?
8. April 2017, 21:58
Jugendliche zur derzeitigen Lage an Österreichs Schulen
Die Genderdiskussion hat eine neue Facette erhalten. Denn internationale Evaluierungen zeigen, dass diejenigen Jugendlichen, die ohne Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt drängen, zu einem überwiegenden Anteil männlichen Geschlechts sind.
Internationaler Trend
In Österreich brechen rund sechs Prozent der Schüler ihre Ausbildung noch vor Beendigung des Pflichtschuljahres ab. Von den Jugendlichen, die ihre Pflichtschule absolvieren, können 18 Prozent nicht sinnerfassend lesen. Internationale Evaluierungen wie die PISA-Studie zeigen, dass fünf Prozent der jungen Menschen in Österreich Analphabeten sind. Die meisten dieser Jugendlichen sind männlichen Geschlechts. Dieser Trend sei in der Jugendforschung generell bemerkbar, sagt die Soziologin Edith Schlaffer, Projektleiterin der aktuellen Studie "Global Kids:
"Wir haben eine ambitionierte, leistungsorientierte, junge weibliche Generation. Sie wurde zum Motor der modernen Wissensgesellschaft. Parallel dazu können wir eine Entwicklung beobachten, die beunruhigender ist: dass nämlich die männlichen Jugendlichen zunehmend aus dem Bildungsschema herausfallen".
An den Bedürfnissen vorbei
Die Leistungen der Schüler an Österreichs Schulen werden an dem bemessen, was sie nicht können, und nicht an ihren Fähigkeiten. Versagt ein Schüler in einem oder zwei Fächern, ist ihm der Aufstieg in die nächste Schulstufe verwehrt. Diese Fehlerkultur produziert Versagensängste. Vor allem abstrakte Fächer wie Mathematik und Deutsch werden zu Stolperfallen. Generell seien Burschen aber nicht theoriefeindlich, meint die Pädagogin Angelika Pascher. Den Grund für das Versagen vieler Burschen sieht sie in der Art der Wissensvermittlung. Denn der schulische Schwerpunkt liege in der theoretischen Ausbildung.
Burschen bräuchten konkrete Herausforderungen. Die Praxisnähe ist im öffentlichen Schulsystem aber nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Gerade die Lehrausgänge und unverbindlichen Übungen, die Außerschulisches erlauben, sind mit dem Sparkurs der vergangenen Jahre gestrichen worden. Dieser Trend geht an den Bedürfnissen der Jugendlichen vorbei.
Soziale Deklassierung
Besonders gefährdet sind jene Jugendlichen, die durch ihren Migrantenstatus in eine Außenseiterposition gedrängt werden. Viele dieser Kinder sind Flüchtlinge. Sie sind aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen, Kriegserlebnisse haben sie schwer traumatisiert. Mit der Migration geht ihr sozialer Status verloren.
Die erlebte soziale Deklassierung führe zu einer Dauerfrustration, die sich in einer erhöhten Bereitschaft zur Gewalt entlädt, erklärt der Psychotherapeut Stephan Engelhardt. Gelingt es den Lehrern aber, die jugendlichen Migranten zu integrieren, nimmt die Gewaltbereitschaft der jungen Männer ab. Generell seien die Konflikte innerhalb der Klassen jedoch mehr geworden, meint Engelhardt. Lehrer seien immer häufiger Krisenmanager als Pädagogen. Die Wissenschaftler machen dafür auch die gespannte Lage am Arbeitsmarkt verantwortlich.
Fehlende soziale Tools
Gelingt es den Lehrern aber, die jugendlichen Migranten zu integrieren, nimmt die Gewaltbereitschaft der jungen Männer ab. Generell seien die Konflikte innerhalb der Klassen jedoch mehr geworden, meint Stephan Engelhardt. Lehrer seien immer häufiger Krisenmanagern als Pädagogen. Vielen Jugendlichen fehlt ein Basiswissen an Konfliktlösungspotential. Die Wissenschafter machen dafür auch die gespannte Lage am Arbeitsmarkt verantwortlich. Die geforderte Mobilität und flexible Arbeitszeiten gehen oft auf Kosten der Familien. Eltern verbringen immer weniger Zeit mit ihren Kindern. Soziales Lernen findet in den Familien immer weniger statt.
Weibliche Erziehung?
Die Wissenschaftler machen für die momentane Situation auch die gespannte Lage am Arbeitsmarkt verantwortlich. Die geforderte Mobilität und flexiblen Arbeitszeiten gehen oft auch auf Kosten der Familien. Eltern verbringen immer weniger Zeit mit ihren Kindern.
In vielen Familien sind vor allem die Männer rar geworden - sei es, weil sie erst spätabends von der Arbeit nach Hause kommen, sei es, weil sie nicht mehr mit ihren Familien zusammenleben. Im Kindergarten und in der Schule sind es hauptsächlich Frauen, die sich um die Erziehung der Kinder kümmern.
Die Burschen als Risikogruppe
Vielen Burschen fehlt ein männliches Gegenüber, mit dem sie sich messen können. Sie haben kein Vorbild, von dem sie ein angemessenes soziales Verhalten als junger Mann erlernen können. Häufig tragen sie ihre Revierkämpfe mit den zu Verfügung stehenden Lehrerinnen aus. Und in dieser Konfrontation ziehen die Burschen regelmäßig den Kürzeren. Die Konsequenz ist in manchen Fällen der Schulverweis.
In Österreich sind es sechs Prozent der 15-Jährigen, die ihre Schulausbildung vorzeitig abbrechen. Die meisten dieser Jugendlichen suchen eine Lehrstelle. Und während im Herbst 2005 mehr als 1.500 Lehrstellen zu wenig angeboten werden, klagen Lehrherren über den Mangel an qualifizierten Jugendlichen. Auch der im April 2005 veröffentlichte Abschlussbericht zum Thema Bildung, den die Zukunftskommission dem Ministerium vorlegte, bezeichnet die Burschen im Bereich Lesekompetenz als "echte Risikogruppe.
Praxisorientierte Bildungsprogramme
Die Lehrstelle ist keine bequeme Alternative zur Schule. Die Lehre fordert die jungen Leute. Verlangt sind nicht nur Qualifikationen und voller Einsatz. Die Jugendlichen benötigen auch ein Basiswissen. Denn Jugendliche, die weder schreiben, lesen noch rechnen können, sind nicht fähig, eine Berufsschule zu besuchen. Rechnet man mit 100 000 Jugendlichen pro Jahrgang, dann sind es 4.000 bis 5.000 Jugendliche pro Jahr, die zu dieser Risikogruppe zählen.
Diese rund 5.000 Jugendlichen habe es bereits in den 1970er Jahren gegeben, meint Maschinenbau-Unternehmer Helmut Jörg. Seit 1974 bildet er Lehrlinge aus. In den 1970er Jahren hätten diesen Jugendlichen Jobs als Hilfsarbeiter gefunden. Diese Arbeit wurde wegrationalisiert oder in die Produktionsstätten in Billiglohnländer verlagert. Der Anteil von 17 Prozent Hilfsarbeitern im Jahr 1970 hat sich 2004 auf vier Prozent verringert. Jugendliche ohne Qualifikationen finden hier kein Betätigungsfeld mehr. Diese Jugendlichen bräuchten eine zweite Chance. Praxisorientierte Bildungsprogramme, die Fünfzehnjährigen noch Basiswissen wie Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln, könnten hier Abhilfe schaffen.
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