Ausländische Autoren berichten aus Deutschland
Reisen ins Reich 1933-1945
Reiseberichte aus NS-Deutschland handeln meist von Flucht und Exil. Kaum jemand reiste nach 1933 freiwillig ins "Reich", es sei denn beruflich, um für internationale Medien zu berichten oder in diplomatischer Mission.
25. November 2022, 11:50
Das NS-Gewaltklima übte eine erotische Anziehung aus, sogar auf Menschen, die sich politisch nicht angesprochen fühlten. Fasces und Fascinum in sinnlicher Nähe ließ die Verbindung von Sadomasochismus und Faschismus sichtbar werden. Sie lieferte den Stoff für künstlerischer Variationen, ob erotische Motive als Propaganda bei Leni Riefenstahl, die Ästhetisierung des Abseitigen bei Jean Genet oder Luchino Visconti oder die Erzählungen des jungen Schriftstellers Christopher Isherwood, bekannt als Musical "Cabaret".
In den 20er und frühen 30er Jahren übte Berlin auf schwule Reisende eine besondere Anziehungskraft aus. "Berlin means boys", fand Christopher Isherwood. Im "Tagebuch des Diebes" gesteht Jean Genet, dass er sich zu Männern in deutscher Uniform hingezogen fühle. Christopher Isherwood und Jean Genet waren beide schwul und haben auf die Nazis sehr unterschiedlich reagiert. Den einen mag seine sexuelle Orientierung besonders sensibilisiert haben, den anderen veranlasste gerade seine Homosexualität, sich mit den Faschisten einzulassen.
Ansteckende Begeisterung
Nicht wenige Reisende haben ihre Einstellung mit ihren zunehmenden Erfahrungen verändert, fast alle, die länger blieben, haben erkannt, dass sie träumerischen Vorstellungen über ein romantisches Deutschland aus der Literatur oder Musik nachjagten und diese inneren Wunschbilder den Blick auf die tatsächlichen Zustände blockierten. Erst allmählich wurden sie zu bewussten "teilnehmenden Beobachtern" des "fremden" Deutschland.
Martha Dodd, die Tochter des Historikers William Edward Dodd, der 1933 als Botschafter der USA nach Berlin entsandt wurde, begleitete ihren Vater und schrieb selbst für die Chicago Tribune. 1939 veröffentlichte sie ihr Buch "My Years in Germany", in dem sie ihren Wandel von einer lebenshungrigen politisch naiven Journalisten zu einer zornigen Gegnerin des Nationalsozialismus schildert. Sie verschweigt auch nicht den Rausch, der sie anfangs erfasste:
Die Begeisterung der Leute war ansteckend, ich erwiderte das "Heil Hitler" so energisch wie ein Nazi. Ich war fasziniert von der ersten Begegnung mit einem der führenden Nazis, der seinen Charme und sein Talent so aufdringlich zum Ausdruck brachte. Ich kam mir vor wie ein Kind, überschwänglich und unbekümmert, trunken vom Gift des neuen Regimes.
Leise Wandlung
Eine gehörige Portion Enttäuschung hatte (auch) Shi Min, ein in Berlin lebende Kuomintang-Anhänger, zu bewältigen, als er realisierte, dass seine Einstufung in der so genannten Rassenkategorie dritten Grades ihm den Eintritt in die Übermenschenrasse auf ewig verwehrte - und zwar trotz all seiner Bewunderung für die Nazis und ihre sauberen Straßen.
Über ein besseres arisches Stehvermögen verfügten die Sympathisanten aus dem hohen Norden, wie etwa der schwedische Weltreisende und Erzähler Sven Hedin, der Deutschland regelmäßig besuchte, Vorträge hielt, Ehrungen entgegen nahm und viermal bei Adolf Hitler zu Gast war. Seine Wandlung blieb leise, während sein Landsmann Gösta Block, einst lokaler NS-Abgeordneter in Schweden und später Journalist im deutschen Reichsrundfunk, 1943 ein kritisches Buch veröffentlichte, das die Judenverfolgung verurteilte.
Auch Regimegegner kamen
Neben den Geblendeten besuchten auch Regimegegner das Deutsche Reich. Die dänische Schriftstellerin Karen Blixen, bekannt durch ihr Buch "Jenseits von Afrika", schrieb hellsichtige Reportagen aus den Krieg führenden europäischen Hauptstädten. Als weit gereiste Autorin zog sie ungewöhnliche Vergleiche: Hitlers Untertanen erschienen ihr wie Tiefseefische, die nur unter Druck lebensfähig sind, und die Gläubigkeit der Nationalsozialisten erinnerte sie an den Islam, ein Wort, das tatsächlich "Hingabe" bedeutet.
Wenig bekannt ist über Jean Paul Sartres Studienaufenthalt 1933/34, ebenso wenig über die Reisen Albert Camus' und Samuel Becketts. Warum ihre recht belanglosen Zeilen dennoch in den Band aufgenommen wurden, bleibt ein Geheimnis des Herausgebers. Ist er dem Name-dropping verfallen oder ist es tatsächlich schon so schwierig geworden, neue Texte aufzuspüren. Die Erzählungen des Bandes "Reisen ins Reich" beeindrucken mehr durch die vermittelten Stimmungen als durch die journalistische und literarische Qualität ihrer Berichte. Nicht an allen dieser Texte wären Meisterwerke verloren gegangen.
Buch-Tipp
Hans Magnus Enzensberger (Hg.), "Reisen ins Reich 1933- 1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland", zusammengestellt und mit einer Einleitung von Oliver Lubrich, Eichborn Verlag, ISBN 3821847425